Totales Differential

Aus testwiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Das totale Differential (auch vollständiges Differential) ist im Gebiet der Differentialrechnung eine alternative Bezeichnung für das Differential einer Funktion, insbesondere bei Funktionen mehrerer Variablen. Zu einer gegebenen total differenzierbaren Funktion f:M bezeichnet man mit df das totale Differential, zum Beispiel:

df=i=1nfxidxi.

Hierbei ist M eine offene Teilmenge des reellen Vektorraums n oder allgemeiner eine differenzierbare Mannigfaltigkeit. Zur Unterscheidung von totalen und partiellen Differentialen werden hier unterschiedliche Symbole benutzt: ein „nicht-kursives d“ beim totalen Differential und ein „kursives d“ () für die partiellen Ableitungen. Zu beachten ist, dass im Folgenden immer die totale Differenzierbarkeit der Funktion vorausgesetzt wird, und nicht nur die Existenz der partiellen Ableitungen, durch die df in der obigen Formel dargestellt wird.

Traditionell, und noch heute oft in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften, versteht man unter einem Differential wie dx,df, eine infinitesimale Differenz.

Dagegen versteht man in der heutigen Mathematik unter einem totalen Differential eine Differentialform (genauer: eine 1-Form). Diese kann man entweder als rein formalen Ausdruck auffassen oder als lineare Abbildung. Das Differential df(x) einer Funktion f im Punkt x ist dann die lineare Abbildung (Linearform), die jedem Vektor v die Richtungsableitung von f am Punkt x in Richtung von v zuordnet. Mit dieser Bedeutung wird das (totale) Differential auch totale Ableitung genannt. Mit dieser Bedeutung lässt sich der Begriff auch auf Abbildungen mit Werten im n, in einem anderen Vektorraum oder in einer Mannigfaltigkeit verallgemeinern.

Einfacher Fall

Totales Differential im einfachen Fall

Für eine Funktion (x,y)f(x,y) zweier unabhängiger Variablen x,y versteht man unter dem totalen Differential den Ausdruck[1]

df=fxdx+fydy.

Totales Differential heißt der Ausdruck, weil er die gesamte Information über die Ableitung enthält, während die partiellen Ableitungen nur Information über die Ableitung in Richtung der Koordinatenachsen enthalten. Die Summanden fxdx und fydy werden gelegentlich auch partielle Differentiale genannt.[2]

Anwendung (Verkettung)

Hängen x und y von einer Größe t ab (zum Beispiel wenn sie die Bahn eines Punktes in der Ebene in Abhängigkeit von der Zeit t beschreiben), sind also Funktionen g:tx und h:ty gegeben, so kann die Ableitung der zusammengesetzten Funktion

tf(x,y)=f(g(t),h(t))

wie folgt berechnet werden:

Die Ableitungen von g und h lassen sich schreiben als dx=gdtg=dxdt und dy=hdth=dydt.

Einsetzen in das totale Differential liefert:

df=df(g(t),h(t))=fxgdt+fyhdt=(fxg+fyh)dt=(fxdxdt+fydydt)dt=(fxx˙+fyy˙)dt

Die letzte Zeile ist die in der Physik übliche Schreibweise.

Division durch dt liefert:

dfdt=ddtf(g(t),h(t))=fxg+fyh=fxdxdt+fydydt=fxx˙+fyy˙.

Mathematisch ist dies eine Anwendung der mehrdimensionalen Kettenregel (siehe unten).

Abweichender Gebrauch der Begriffe partielle und totale Ableitung in der Physik

In der Mechanik werden typischerweise Situationen behandelt, in denen die Funktion f nicht nur von den Ortskoordinaten x und y abhängt, sondern auch von der Zeit. Wie oben wird der Fall betrachtet, dass x=g(t) und y=h(t) die Ortskoordinaten eines sich bewegenden Punktes sind. In dieser Situation hängt die zusammengesetzte Funktion

tf(t,g(t),h(t))

in doppelter Weise von der Zeit t ab:

  1. Dadurch, dass f selbst in der ersten Variablen von t abhängt. Diese Zeitabhängigkeit nennt man explizit.
  2. Dadurch, dass die Ortskoordinaten x=g(t) und y=h(t) von t abhängen. Diese Zeitabhängigkeit nennt man implizit.

Man spricht nun von der partiellen Ableitung von f nach der Zeit, wenn man die partielle Ableitung der ersten Funktion meint, also

ft(t,x,y)

bei festen x und y. Hier wird also nur die explizite Zeitabhängigkeit berücksichtigt.

Hingegen spricht man von der totalen Ableitung von f nach der Zeit, wenn man die Ableitung der zusammengesetzten Funktion meint, also

ddtf(t,g(t),h(t)).

Die beiden hängen wie folgt zusammen:

ddtf(t,g(t),h(t))=ft+fxg+fyh=ft+fxdxdt+fydydt=ft+fxx˙+fyy˙

Hier werden also die explizite und die implizite Zeitabhängigkeit berücksichtigt (Terme aus der expliziten Zeitabhängigkeit, die gegenüber dem allgemeinen Gebrauch der totalen Zeitableitung hinzugekommen sind, wurden hier blau markiert).

Beispiel aus der Fluidmechanik

Mit T(t,x1,x2,x3) werde die Temperatur zur Zeit t am Ort x=(x1,x2,x3) bezeichnet.

Die partielle Ableitung Tt beschreibt dann die zeitliche Temperaturänderung an einem festen Ort (x1,x2,x3).

Die Temperaturänderung, die ein sich mit der Strömung bewegendes Teilchen erfährt, hängt aber auch von der Ortsänderung ab. Die totale Ableitung der Temperatur lässt sich dann wie oben mit Hilfe des totalen Differentials beschreiben:

dT=Ttdt+Tx1dx1+Tx2dx2+Tx3dx3

bzw.

dTdt=Tt+Tx1dx1dt+Tx2dx2dt+Tx3dx3dt

Das totale Differential als lineare Abbildung

Reeller Vektorraum

Für den Fall, dass M eine offene Teilmenge des reellen Vektorraums n ist und f eine differenzierbare Funktion von M nach , ist zu jedem Punkt pM das totale Differential df(p):n eine lineare Abbildung, die jedem Vektor v=(v1,,vn)n die Richtungsableitung in Richtung dieses Vektors zuordnet, also

df(p):n, vvf(p)=ddtf(p+tv)|t=0=i=1nfxi(p)vi.

Da das totale Differential df(p) eine lineare Abbildung nach ist, also eine Linearform, lässt es sich in folgender Form schreiben

df(p)=i=1nfxi(p)dxi,

wobei dxi:n die Linearform ist, die einem Vektor v=(v1,,vn) seine i-te Komponente vi zuordnet, das heißt dxi(v)=dxi(v1,,vn)=vi (duale Basis).

Unter Zuhilfenahme des Gradienten lässt sich das totale Differential auch wie folgt schreiben:

[df(p)](v)=f(p)v=grad(f)v,

wobei auf der rechten Seite das Skalarprodukt steht.

Mannigfaltigkeit

Vorlage:Siehe auch Für den allgemeinen Fall ist zu jedem Punkt pM das totale Differential df(p):TpM eine lineare Abbildung, die jeder Tangentialrichtung vTpM die Richtungsableitung in diese Richtung zuordnet. Ist v=γ˙(0) der Tangentialvektor einer Kurve γ in M mit γ(0)=p, so ist

[df(p)](v)=ddt(fγ(t))|t=0 .

Das totale Differential df(p) ist somit ein Element des Kotangentialraums Tp*M von M am Punkt p.

Für eine Darstellung von df in Koordinaten betrachte man eine Karte y:Un einer Umgebung U des Punkts p mit y(p)=0. Mit e1,,en werde die Standardbasis des n bezeichnet. Die n verschiedenen Kurven γi(t):=y1(tei) repräsentieren eine Basis γ˙1(0),,γ˙n(0) des Tangentialraums TpM und mittels

fyi(p)=ddt(fγi(t))|t=0=xi(fy1)(0)

erhält man die partiellen Ableitungen. Analog zum reellen Vektorraum gilt dann

df(p)=i=1nfyi(p)dyi,

wobei dyi:TpM das totale Differential der Funktion yi:U ist, also das Element aus dem Kotangentialraum Tp*M, das dual zum Basisvektor γ˙i(0) ist.

Betrachtet man Tangentialvektoren vTpM als Derivationen, so gilt [df(p)](v)=v(f).

Kettenregel

Vorlage:Hauptartikel Ist f:n eine differenzierbare Funktion und ist g:n, g(t)=(g1(t),,gn(t)) ein differenzierbarer Weg (zum Beispiel die Beschreibung eines sich bewegenden Punktes), so gilt für die Ableitung der verketteten Funktion:

ddt(fg)(t)=[df(g(t))](g(t))=f(g(t))g(t)=gradf(g(t))g(t)=fx1(g(t))g1(t)++fxn(g(t))gn(t)

Die analoge Aussage gilt für Mannigfaltigkeiten.

Differential und lineare Approximation

Die Ableitung einer total differenzierbaren Funktion f:n im Punkt pn ist eine lineare Abbildung (Funktion), die die Funktion

hf(p+h)f(p)

approximiert, also

f(p+h)f(p)i=1nfxi(p)hi, mit  h=(h1,,hn),

für kleine Änderungen h1,,hn.

Differentiale als kleine Änderungen

In der modernen Mathematik bezeichnet man als (totales) Differential df(p) von f im Punkt p gerade diese Funktion (siehe oben). Die Begriffe „totales Differential“ und „totale Ableitung“ sind somit gleichbedeutend. Die Darstellung

df(p)=i=1nfxi(p)dxi

ist also eine Gleichung zwischen Funktionen. Auch die Differentiale dxi sind Funktionen, nämlich die Koordinatenfunktionen, die dem Vektor h=(h1,,hn) die i-te Komponente hi zuordnen: dxi(h)=hi. Die Approximierungseigenschaft schreibt sich somit als

f(p+h)f(p)[df(p)](h).

In der traditionellen, in vielen Naturwissenschaften verbreiteten Sichtweise stehen die Differentiale dxi für die kleinen Änderungen hi selbst. Das totale Differential df von f steht dann für den Wert der genannten linearen Abbildung, und die Approximationseigenschaft schreibt sich als

Δf=f(p+dx)f(p)df

bzw:

f(p+dx)f(p)+df

Beispiele für diese Sichtweise zeigen das nebenstehende Bild und das Bild oben.

Integrabilitätsbedingung

Vorlage:Siehe auch Jedes totale Differential A=df ist eine 1-Form, das heißt A besitzt folgende Darstellung

A(p)=i=1nai(p)dxi,

man sagt, die 1-Form ist exakt. Im Kalkül der Differentialformen wird die Cartan-Ableitung dA als folgende 2-Form beschrieben:

dA(p)=i=1nj=i+1n[ajxi(p)aixj(p)]dxidxj

Handelt es sich bei A tatsächlich um ein totales Differential df einer C2-Funktion f, d. h. gilt ai=fxi, so ist

dA(p)=i=1nj=i+1n[2fxixj(p)2fxjxi(p)]dxidxj=0

nach dem Satz von Schwarz.

Lokal gilt auch immer die Umkehrung: Erfüllt die 1-Form A die Bedingung dA=0, man sagt, A ist geschlossen, so existiert zumindest in einer Umgebung jedes gegebenen Punktes eine Stammfunktion von A, d. h., eine differenzierbare Funktion f, so dass A=df ist. Aus dem Satz von Schwarz folgt, dass jede exakte Form geschlossen ist.

Man nennt die Bedingung dA=0 deshalb auch Integrabilitätsbedingung. Ausführlich formuliert lautet sie:

Für alle Indizes i,j gilt   ajxi=aixj,

bzw:

Für alle Indizes i,j gilt   ajxiaixj0,

was im Hinblick auf physikalische Anwendungen auch als verallgemeinerte Rotationsbedingung bezeichnet wird.

In vielen Fällen existiert dann sogar eine globale Stammfunktion und A ist tatsächlich ein totales Differential. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Definitionsbereich der Differentialform A der euklidische Raum n ist, oder allgemeiner wenn er sternförmig oder einfach zusammenhängend ist.

Die Aussage, dass auf einer Mannigfaltigkeit M jede 1-Form, die die Integrabilitätsbedingung erfüllt, eine Stammfunktion besitzt (also ein totales Differential ist), ist äquivalent dazu, dass die erste De-Rham-Kohomologie-Gruppe HdR1(M) trivial ist.

Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

Betrachtet man M= und eine beliebige 1-Form A=fdx. Dann gilt aus Dimensionsgründen immer dA=0 und die für gültige Integrabilitätsbedingung ist erfüllt. Somit gibt es eine Funktion F, die die Gleichung dF=fdx bzw. F=f erfüllt. Dies ist gerade der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung für Funktionen einer Variablen.

Verallgemeinerungen

Ganz analog (im Prinzip komponentenweise) lässt sich die totale Ableitung für vektorwertige Funktionen definieren. Als Verallgemeinerung für Abbildungen in eine differenzierbare Mannigfaltigkeit erhält man Pushforwards.

In der Funktionalanalysis kann man den Begriff der totalen Ableitung in naheliegender Weise für Fréchet-Ableitungen verallgemeinern, in der Variationsrechnung für die sog. Variationsableitungen.

Neben dem exakten Differential gibt es ebenfalls inexakte Differentiale.

Literatur

  • Robert Denk, Reinhard Racke: Kompendium der Analysis, Band 1, 1. Auflage, 2011.
  • Otto Forster: Analysis 2, 11. Auflage, 2017.

Einzelnachweise

  1. Lothar Papula: Mathematik für Ingenieure. Band 2, 5. Auflage. 1990.
  2. Ilja N Bronstein, Konstantin A Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik. 7. überarb. und erg. Auflage. Harri Deutsch, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-8171-2007-9