Abstrakter Wiener-Raum

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Ein abstrakter Wiener-Raum ist eine Konzept aus der Stochastik, welches einerseits den klassischen Wiener-Raum verallgemeinert und andererseits eine Konstruktion ist, um zylindrische gaußsche Maße in separablen Hilberträumen auf Banachräumen als σ-additive Maße fortzusetzen. Die Konstruktion weist den Cameron-Martin-Räumen aus dem Satz von Cameron-Martin ihre zentrale Stellung in der modernen Stochastik zu. Der abstrakte Wiener-Raum wurde 1967 von dem US-amerikanischen Mathematiker Leonard Gross eingeführt und das Konzept hat Parallelen zu dem des Gelfand-Tripels, unterscheidet sich aber dadurch, dass es ein rein maßtheoretisches Konzept ist.[1]

In unendlichdimensionalen topologischen Räumen verwendet man häufig zylindrische Maße, welche keine klassischen Maße im eigentlichen Sinne sind, da sie auf der zylindrischen Algebra per Definition nicht σ-additiv sein müssen. Sie sind aber σ-additiv auf allen endlichdimensionalen Projektionen. Die Idee hinter des abstrakten Wiener-Raumes ist es nun, für ein zylindrisches gaußsches Maß auf einem Hilbertraum H eine passende Erweiterung des Raumes HB zu finden, so dass das gaußsche Maß σ-additiv auf der zylindrischen Algebra 𝒵𝓎𝓁(B,B) des Banachraumes wird. Dies geschieht durch Einführung der sogenannten Gross-Messbarkeit oder der messbaren Halbnorm. Der Banachraum B wird dann definiert als die Vervollständigung unter dieser messbaren Norm. Das zylindrische gaußsche Maß bleibt dann auch σ-additiv auf der zylindrischen σ-Algebra, was aus dem Maßerweiterungssatz von Carathéodory folgt.

Einleitung und Historisches

Um die Idee hinter dem abstrakten Wiener-Raum besser zu verstehen, wird der abstrakte Wiener-Raum unter Bezug der Geschichte hergeleitet.

Der klassische Wiener-Raum als Banachraum

Ausgehend von der brownschen Bewegung konstruierte Norbert Wiener 1923 ein gaußsches Maß γ auf dem Funktionenraum

C:={f:[0,1]df ist stetig,f(0)=0}.

Als σ-Algebra kann man die borelsche oder zylindrische σ-Algebra wählen, sie sind in diesem Fall die gleichen σ-Algebren, was in unendlichdimensionalen Räumen im Allgemeinen nicht der Fall ist.

Ausgestattet mit der Supremumsnorm

f=sup\limits t[0,1]|f(t)|

wird C zu einem Banachraum, da [0,1] kompakt ist und die Funktionen stetig sind. Möchte man hingegen Funktionen der Form f:[0,)d betrachten, so erhält man zwar einen vollständigen, separablen metrischen Raum, aber keinen Banachraum. Damit dieser Raum zu einem Banachraum wird, benötigt man zusätzlich die Bedingung lim\limits tt1|f(t)|=0.

Der Differentialkalkül in unendlichdimensionalen Räumen

Wiener führte 1930 in seinem Studium zur verallgemeinerten harmonischen Analysis das Integral über diesem Raum ein[2]

CF[f]γ(df),

welches heute als „ursprüngliches“ Wiener-Integral bezeichnet wird. Heute verwendet man den Begriff Wiener-Integral aber meistens für ein stochastisches Integral mit deterministischem Integranden, ohne das dabei über einen Funktionenraum integriert wird.

Ein Wiener-Funktional ist eine Abbildung der Form F:C. Möchte man nun diese Abbildung differenzieren, so wäre die natürlich Wahl das Gâteaux-Differential in Richtung von gC, da (C,) ein Banachraum ist, das heißt

DgF:=limτ0F[f+τg]F[f]τ=ddτF[f+τg]|τ=0.

Es stellt sich jedoch raus, dass diese Ableitung nicht für alle gC definiert ist. Es existiert sogar ein Unterraum GC, der „volles“ Maß hat γ(G)=1, aber der Shift des Wienerraumes „leer“ ist

γ(g+C)=0

für ein beliebiges Element aus dem Unterraum gG.

Beschränkt man jedoch die Richtungen auf einen passenden Unterraum HC, so lässt sich ein neuer Ableitungsbegriff definieren, was im Malliavin-Kalkül gemacht wird. Welches die richtigen Unterräume bei einem gaußschen Maß sind, beantworten die folgenden Abschnitte.

Reproduzierende Operatoren und ihre Hilberträume

Sei E ein lokalkonvexer Raum, der auch Hausdorff ist, und sei H ein eingebetteter Hilbertraum in E, das heißt es existiert eine stetige und injektive Funktion

t:HE.

Der Darstellungssatz von Fréchet-Riesz sagt, dass H isomorph zu seinem topologischen Dualraum H ist, das bedeutet wiederum, dass die adjungierte Abbildung

t*:EH

auch stetig ist.

Betrachtet man nun die Komposition der beiden Abbildungen R:=tt*, dann ist das ein linearer Operator

R:EE,

der reproduzierender Operator genannt wird. Der Hilbertraum H zu einem reproduzierenden Operator R wird auch kern-reproduzierender Hilbertraum genannt und man kann zeigen, dass eine Bijektion zwischen den reproduzierenden Operatoren und deren Hilberträume existiert.[3][4]

Der Cameron-Martin-Raum

Betrachte nun ein gaußsches Maß γ auf dem lokalkonvexen Raum E. Sei 𝔼γ[f] der Erwartungswert bezüglich γ. Der Kovarianzoperator von γ ist für zwei Elemente fE und gE wie folgt definiert

Rγ(f)(g)=E(f𝔼γ[f])(g𝔼γ[g])γ(dx)

mit der Abbildung in den Bidualraum

Rγ:E(E)*.

Die Abbildung

Covγ(f,g):=Rγ(f)(g)

nennt man auch Kovarianz. Der Operator Rγ ist ein reproduzierender Operator, das heißt für Rγ und Covγ existiert ein eindeutiger kern-reproduzierender Hilbertraum Hγ.[5]

Der Satz von Cameron-Martin gibt dem Raum Hγ eine zentrale Stellung in der Stochastik, deshalb wird er zu Ehren der beiden amerikanischen Mathematikern Robert Horton Cameron und William Ted Martin auch Cameron-Martin-Raum genannt.

Der Satz von Cameron-Martin

Vorlage:Hauptartikel 1943 veröffentlichten Cameron und Martin den einflussreichen Satz von Cameron-Martin über die Transformation von Wiener-Integralen, im Sinne des Integrals über den klassischen Wiener-Raum. Die ursprüngliche Variante befasste sich mit der Transformation des Integrals unter der Translation

F[g]F[g+h].

Der ursprüngliche Satz lautet:

Die Translation gg+h erzeugt genau dann ein absolut stetiges Maß bezüglich des Wiener-Maßes γ, wenn h absolut stetig ist und für die Ableitung h gilt hL2([0,1],dx).[6]

Der Satz gibt dem Raum absolut stetigen Funktionen mit quadratintegrierbar Ableitung bezüglich des Lebesgue-Maßes

Hγ={hC:h absolut stetig,hL2([0,1],dx)}

eine zentrale Bedeutung für das Wiener-Maß. Es handelt es sich um den Cameron-Martin-Raum von γ in C.

Bevor wir näher auf diesen Raum eingehen, werden wir noch die moderne und abstrakte Variante des Satzes von Cameron-Martin in kurzer Form betrachten. Diese lautet wie folgt:

Sei E ein lokalkonvexer Vektorraum und γ ein gaußsches Maß darauf. Notiere die Translation um ein Element mE durch γm(A)=γ(A+m). Weiter sei Rγ der Kovarianzoperator, welcher einen Cameron-Martin-Raum HγE induziert. Falls mHγ, dann ist γm absolutstetig bezüglich γ.[7]

Der Satz sagt also, für das gaußsches Maß γm existiert eine Radon-Nikodym-Dichte bezüglich γ. Deshalb wird im Malliavin-Kalkül der Ableitungsbegriff entlang der Cameron-Martin-Richtungen hHγ definiert.

Vom Wiener-Raum zum allgemeinen Banachraum

Betrachten wir nochmals die ursprüngliche Variante des Satzes von Cameron-Martin. Eine zentrale Stellung in dem Satz hat der Hilbertraum (Hγ,,H) der absolut-stetigen Funktionen mit quadratisch-integrierbarer Ableitungen

f,g=01f(x)g(x)dx.

Dieser Raum ist eine Nullmenge unter dem Wiener-Maß

γ(Hγ)=0,

tatsächlich ist jeder stetig eingebettete Hilbertraum HC eine γ-Nullmenge.[8] Doch die euklidische Struktur des Hilbertraumes ist das, was die Struktur des Satzes von Cameron-Martin bestimmt.[9] Diese Bedeutung wurde dem Mathematiker Irving Segal klar, welcher gaußsche Maße auf einem beliebigen Hilbertraum unter linearen Operatoren T untersuchte und den Satz von Cameron-Martin auf allgemeine Hilberträume verallgemeinerte.[10]

Leonard Gross erkannte dann, dass nicht nur der Hilbertraum Hγ eine wichtige Bedeutung hat, sondern auch die Beziehung zwischen dem Hilbertraum und seinem Banachraum, in dem der Hilbertraum eingebettet HγB ist. Doch statt die Hilbertraum-Norm zu betrachten, führte er eine schwächere sogenannte messbare Norm ein, so dass B die Vervollständigung unter der messbaren Norm ist. Heute spricht man auch von Gross-messbarkeit.

In topologischen Vektorräumen, welche unendlichdimensional sind, arbeitet man häufig nicht direkt auf der borelschen σ-Algebra, weil diese zu groß ist und Probleme mit sich ziehen kann. Stattdessen betrachtet man häufig die zylindrischen Maße, welche per Definition nur additive Mengenfunktionen auf der zylindrischen Algebra sind. Die Idee hinter der Gross-messbaren Halbnorm 1 ist es nun, dass ein gaußsches Maß auf einem Hilbertraum HγB in dem Banachraum (B,1) auch ein σ-additives Maß auf dem Banachraum ist.[11]

Abstrakter Wiener-Raum

Sei H separabler reeller Hilbertraum und H sein topologischer Dualraum, ausgestattet mit der zylindrischen Algebra 𝒵𝓎𝓁(H,F) für einen Unterraum FH und dem kanonischen zylindrischen Wiener-Maß γ darauf. Weiter sei 𝒫(H) die Menge aller orthogonalen Projektionen in H mit endlich-dimensionalen Bild.

Messbare Halbnorm

Eine Halbnorm 1 auf H heißt Gross-messbar oder messbar, falls für jede reelle Zahl ε>0 eine endlichdimensionale orthogonale Projektion Pε existiert, so dass für alle P𝒫(H), welche orthogonal zu Pε sind, das heißt PPε=0, die Ungleichung

γ({xH:Px1>ε})<ε

gilt. Wobei γ das kanonische zylindrische Wiener-Maß auf H bezeichnet.[12] Die Halbnorm 1 muss nicht die Skalarproduktnorm H des Hilbertraumes sein.

Eigenschaften

Man kann zeigen, dass jede Gross-messbare Halbnorm eine stetige Halbnorm ist. Gross-messbare Normen können mit Hilfe von Hilbert-Schmidt-Operatoren charakterisiert werden. Sei q eine Norm auf H definiert durch einen linearen Operator TL(H) und q(x)=TxH. Dann ist q dann und nur dann Gross-messbar, wenn T ein Hilbert-Schmidt-Operator ist.[13][14]

Abstrakter Wiener-Raum

Ein abstrakter Wiener-Raum ist das Tripel (H,B,i) bestehend aus

  • einem separablen reellen Hilbertraum H,
  • einem separablen Banachraum (B,1),
  • einer stetigen linearen Einbettung i:HB mit dichtem Bild i(H) in B, so dass 1 respektive i()1 Gross-messbar ist.[15][16]

In anderen Worten, für einen separablen reellen Hilbertraum H und eine Gross-messbare Norm 1 wählt man B als die Vervollständigung unter dieser Norm.

Häufig definieren Autoren den abstrakten Wienerraum ohne explizite Nennung der Einbettung i und der messbaren Norm einfach als (H,B,γ).

Das Resultat von Gross

Sei (H,B,i) ein abstrakter Wiener-Raum und γ ein zylindrisches gaußsches Maß auf H, dann ist γi1 ein σ-additives zylindrisches Maß auf B respektive auf der zylindrischen Algebra 𝒵𝓎𝓁(B,B). Weiter lässt sich zeigen, dass H zugleich der Cameron-Martin-Raum von γ auf B ist.[17]

Erläuterungen

Gegeben sei reeller separabler Hilbertraum H, ein zylindrisches gaußsches Maß γ und eine messbare Norm 1 auf H. Wenn nun der Banachraum B die Vervollständigung unter 1 ist, dann lässt sich γ als gaußsches Maß auf B fortsetzen, das heißt als σ-additives Maß.

Da γ σ-additiv auf der zylindrischen Algebra 𝒵𝓎𝓁(B,B) ist, ist nach dem Maßerweiterungssatz von Carathéodory auch σ-additiv auf der zylindrischen σ-Algebra (B,B)=σ(𝒵𝓎𝓁(B,B)) und deshalb auch ein Maß im klassischen Sinne.

Beispiele

Sei C der klassische Wiener-Raum, HγC der Raum

Hγ={hC:h absolut stetig,hL2([0,1],dx)}

und i:HγC die Inklusionsabbildung, dann ist (Hγ,C,i) ein abstrakter Wiener-Raum.

Literatur

Einzelnachweise