Produktmaß

Aus testwiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ein Produktmaß ist in der Mathematik ein spezielles Maß auf dem Produkt von Maßräumen. Es ist dadurch charakterisiert, dass es einem kartesischen Produkt von Mengen das Produkt der Maße der einzelnen Mengen zuordnet. So ist das n-dimensionale Lebesgue-Borel-Maß auf dem n gerade das n-fache Produktmaß des eindimensionalen Lebesgue-Borel-Maßes. In der Wahrscheinlichkeitstheorie werden Produkte von Wahrscheinlichkeitsmaßen zur Modellierung von stochastischer Unabhängigkeit verwendet.

Konstruktion des Produktmaßes

Einführung

Wenn man an die gewohnten reellen Zahlengeraden (also die x- und y-Achse) mit dem eindimensionalen Lebesgue-Maß λ1 denkt, so ist es naheliegend, ein Maß λ2 auf der Ebene 2 so zu definieren, dass für messbare Mengen A,B gilt

λ2(A×B)=λ1(A)λ1(B).

Dann ergibt sich insbesondere für das zweidimensionale Maß eines Rechtecks

R={(x,y)2axb,cyd}=[a,b]×[c,d]

die Formel λ2(R)=(ba)(dc), also die bekannte Formel, nach der die Fläche eines Rechtecks gleich dem Produkt seiner Seitenlängen ist.

Da bereits einfachste geometrische Figuren, wie Dreiecke oder Kreise, nicht als kartesische Produkte dargestellt werden können, muss die Mengenfunktion λ2 noch zu einem Maß auf einer σ-Algebra fortgesetzt werden.

Produkte zweier Maße

Für zwei beliebige Messräume (𝕏1,𝒜1) und (𝕏2,𝒜2) ist zunächst die Produkt-σ-Algebra 𝒜=𝒜1𝒜2 zu definieren. Diese ist die vom Produkt von 𝒜1 und 𝒜2

𝒜1×𝒜2:={A1×A2A1𝒜1,A2𝒜2}

erzeugte σ-Algebra, also die kleinste σ-Algebra, welche 𝒜1×𝒜2 enthält. (Dieser Schritt ist nötig, weil das Produkt 𝒜1×𝒜2 selbst im Allgemeinen keine σ-Algebra ist, sondern nur ein Halbring.)

Seien nun (𝕏1,𝒜1,μ1) und (𝕏2,𝒜2,μ2) zwei Maßräume. Man möchte dann analog zum obigen Beispiel auf der Produkt-σ-Algebra 𝒜=σ(𝒜1×𝒜2) ein Maß μ definieren, welches μ(A1×A2)=μ1(A1)μ2(A2) erfüllt für alle A1𝒜1,A2𝒜2. Ein Maß μ, das diese Bedingung erfüllt, wird dann Produktmaß genannt. Solch ein Maß μ existiert stets, wie man etwa mit dem Maßerweiterungssatz von Carathéodory zeigen kann. Allerdings ist so ein Maß nicht notwendig eindeutig bestimmt. Wenn es sich jedoch um zwei σ-endliche Maßräume handelt, dann ist auch 𝒜=𝒜1𝒜2 σ-endlich und auf 𝒜 existiert genau ein Produktmaß μ. Es wird mit μ=μ1μ2 bezeichnet. Das Produktmaß lässt sich in diesem Fall nach dem Prinzip von Cavalieri als Integral darstellen: Für A𝒜 gilt

μ(A)=𝕏1μ2({x2𝕏2(x1,x2)A})dμ1(x1)=𝕏2μ1({x1𝕏1(x1,x2)A})dμ2(x2).

Produkte endlich vieler Maße

Sei ((𝕏i,𝒜i,μi))iI mit I={1,,n} und n eine Familie von Maßräumen. Ein auf der dazugehörigen Produkt-σ-Algebra definiertes Maß μ:iI𝒜i[0,] heißt dann Produktmaß von (μi)iI, wenn für alle iIAiiI𝒜i

μ(iIAi)=iIμi(Ai)

gilt. Die Existenz von μ zeigt man mittels vollständiger Induktion über n mit Hilfe des Produkts zweier Maße. Analog hierzu erhält man die Eindeutigkeit von μ nach dem Fortsetzungssatz, wenn μi für alle iI σ-endlich ist.

Entsprechend definiert man mit iI(𝕏i,𝒜i,μi):=(iI𝕏i,iI𝒜i,iIμi) den Produktmaßraum von ((𝕏i,𝒜i,μi))iI.

Bemerkungen

  • Mit Hilfe dieser Definition kann das Prinzip von Cavalieri in seiner allgemeinsten Form auf dem n für jede (fast überall) Lebesgue-messbare Teilmenge formuliert werden.
  • Auch die Sätze von Fubini und Tonelli gelten unter der Voraussetzung σ-endlicher Maßräume ganz allgemein (also nicht unbedingt nur für den euklidischen Raum) für messbare Funktionen.
  • Für die Eindeutigkeitsaussage von μ1μ2 ist wirklich notwendig, dass beide Maßräume σ-endlich sind. Setzt man nämlich 𝕏1:=𝕏2:=[0,1],𝒜1:=𝒜2:=𝔅()|[0,1] (die auf [0,1] eingeschränkte borelsche σ-Algebra) und wählt für μ1 das Lebesguemaß, für μ2 das nicht σ-endliche Zählmaß, so gibt es mindestens drei verschiedene Produktmaße auf 𝒜1𝒜2=𝔅(2)|[0,1]2, obwohl immer noch einer der Maßräume σ-endlich ist.
  • Das Produktmaß zweier vollständiger Maße ist im Allgemeinen nicht wieder vollständig, beispielsweise ist {0}×A für jede Teilmenge A eine λ2-Nullmenge, aber nur für A() liegt diese Menge in ()(), d. h., es gilt ()()(2)
  • Im Gegensatz dazu gilt für die Borelsche σ-Algebra 𝔅(m)𝔅(n)=𝔅(m+n) für alle n,m.
  • Sind (Ω1,Σ1,P1) und (Ω2,Σ2,P2) zwei Wahrscheinlichkeitsräume, die jeweils ein Zufallsexperiment beschreiben, dann modelliert das Produkt (Ω1×Ω2,Σ1Σ2,P1P2) das gemeinsame Experiment, das darin besteht, die beiden Einzelexperimente unabhängig voneinander durchzuführen.

Unendliche Produktmaße

In der Wahrscheinlichkeitstheorie ist man insbesondere an der Existenz von unendlichen Produktmaßen interessiert, sprich an Produkten von abzählbar oder überabzählbar vielen Wahrscheinlichkeitsmaßen. Diese ermöglichen das Untersuchen von Grenzwerten oder wichtige Konstruktionen wie die von unabhängig identisch verteilten Zufallsvariablen oder Produktmodelle in Stochastik und Statistik.

Definition

Beide Definitionen greifen auf die Konstruktionen des endlichen Produktmaßes zurück.

Abzählbare Indexmenge

Für eine abzählbar unendliche Indexmenge I, hier exemplarisch I=, lässt sich die obige Produktformel nicht mehr explizit formulieren. Man fordert stattdessen, dass sie für die ersten n Wahrscheinlichkeitsmaße gilt, und dies für beliebiges n. Sind also Wahrscheinlichkeitsräume (Ωi,𝒜i,Pi) für i gegeben, so heißt das Wahrscheinlichkeitsmaß P auf

(Ω,𝒜):=(i=0Ωi,i=0𝒜i)

das Produktmaß der Pi, wenn für alle Ai𝒜i und alle n gilt, dass

P(A0×A1××An×i=n+1Ωi)=P0(A0)P1(A1)Pn(An)

ist.

Überabzählbare Indexmenge

Für eine überabzählbar unendliche Indexmenge I stößt das obige Vorgehen an seine Grenzen, da eine Definition über die ersten n Maße nicht mehr sinnvoll ist. Stattdessen betrachtet man Projektionen eines Wahrscheinlichkeitsmaßes P von dem überabzählbaren Produktraum auf die endlichen Produkträume. Das Bildmaß unter einer solchen Projektion soll dann mit dem endlichen Produkt der Wahrscheinlichkeitsmaße übereinstimmen.

Sind also nun Wahrscheinlichkeitsräume (Ωi,𝒜i,Pi) für iI gegeben und ist

(ΩI,𝒜I):=(iIΩi,iI𝒜i)

der überabzählbare Produktraum und

πJ:ΩIΩJ definiert durch πJ(ω)=ω|J

die Projektion auf die Komponenten aus JI. Dann heißt ein Wahrscheinlichkeitsmaß P das Produktmaß der (Pi)iI, wenn für jede endliche Teilmenge JI das Bildmaß PπJ=P(πJ)1 mit dem endlichen Produktmaß von (Pi)iJ übereinstimmt. Es soll also

PπJ=iJPi

gelten. Insbesondere ist die Definition für abzählbare Produkte ein Spezialfall dieser Definition mit J={0,1,,n}.

Existenz und Eindeutigkeit

Sowohl die Existenz eines Produktmaßes als auch die Eindeutigkeit liefert der Satz von Andersen-Jessen. Es existieren unterschiedlichste Beweise zur Existenz von Produktmaßen, die sich nach dem Grade ihrer Allgemeinheit und ihren Voraussetzungen unterscheiden. So existieren beispielsweise eigene Sätze über die Existenz eines Produktmaßes beim unendlich oft wiederholten Münzwurf. Der Satz von Andersen-Jessen liefert die Existenz und Eindeutigkeit aber für beliebige Indexmengen und ohne spezielle Voraussetzungen zu stellen und beantwortet die Frage somit zur Gänze.

Abgrenzung

Produktmaße sollte man nicht mit Maßen auf einem Produktraum verwechseln. Diese finden Anwendung in der Theorie stochastischer Prozesse und unterscheiden sich von den Produktmaßen insbesondere dadurch, dass die obigen Produktformeln, die der stochastischen Unabhängigkeit entsprechen, nicht mehr gelten müssen. Typisches Beispiel hierfür wäre ein Markow-Prozess: Es stellt sich die Frage, ob ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem Produkt des Zustandsraumes existiert, das den Prozess als gesamtes beschreibt. Dieses Wahrscheinlichkeitsmaß ist dann aber sicher kein Produktmaß im obigen Sinne, da sich Markow-Prozesse eben durch ihre Abhängigkeit auszeichnen und dementsprechend die obigen Produktformeln nicht gelten werden.

Wichtige dieser Existenzsätze für Maße auf Produkträumen sind der Satz von Ionescu-Tulcea und der Erweiterungssatz von Kolmogorov. Der erstere liefert die Existenz eines Wahrscheinlichkeitsmaßes, das mittels Markow-Kernen definiert wird, der zweitere die Existenz eines Maßes mit vorgegebenen Randverteilungen, die mittels projektiver Familien von Wahrscheinlichkeitsmaßen bestimmt werden. Beide Sätze lassen sich auch zur Konstruktion von Produktmaßen als Spezialfälle verwenden. Allerdings liefern sie keine so allgemeinen Ergebnisse wie der Satz von Andersen-Jessen. So gilt der Erweiterungssatz von Kolmogorov beispielsweise nur für borelsche Messräume.

Wichtige Sätze

Literatur