Poincaré-Ungleichung

In der Analysis bezeichnet man als Poincaré-Ungleichung eine nach dem französischen Mathematiker Henri Poincaré benannte Ungleichung aus der Theorie der Sobolev-Räume. Die Ungleichung ermöglicht es, Schranken für eine Funktion aus Schranken der Ableitungen und der Geometrie des Definitionsbereichs herzuleiten. Solche Schranken spielen in der Variationsrechnung eine große Rolle.

Formulierung der Ungleichung

Die klassische Poincaré-Ungleichung

Sei $1\le p<\mathrm{\infty }$ und $\mathrm{\Omega }$ eine beschränkte zusammenhängende offene Teilmenge des $n$-dimensionalen euklidischen Raumes ${ℝ}^n$ mit Lipschitz-Rand (d. h. $\mathrm{\Omega }$ ist ein Lipschitz-Gebiet). Dann gibt es eine Konstante $C$, die nur von $\mathrm{\Omega }$ und $p$ abhängt, so dass für jede Funktion $u$ im Sobolev-Raum $W^{1,p}(\mathrm{\Omega })$ die Ungleichung

$\Vert u-u_{\mathrm{\Omega }}{\Vert }_{L^p(\mathrm{\Omega })}\le C\Vert \mathrm{\nabla }u{\Vert }_{L^p(\mathrm{\Omega })}$

gilt, wobei

$u_{\mathrm{\Omega }}=\frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }u(y)\mathrm{d}y$

der Mittelwert von $u$ über $\mathrm{\Omega }$ ist, $|\mathrm{\Omega }|$ bezeichnet das Lebesgue-Maß des Gebietes $\mathrm{\Omega }$.

Mit Hilfe der Hölder-Ungleichung kann man zeigen, dass die $L^2$-Poincaré-Ungleichung aus der $L^1$-Poincaré-Ungleichung folgt. Allgemein: Wenn für ein Gebiet $\mathrm{\Omega }$ die Poincaré-Ungleichung für ein $p^{\prime }$ gilt, dann gilt sie auch für alle $p>p^{\prime }$, eventuell mit einer anderen Konstanten $C$.

Eindimensionales Beispiel

Sei f eine stetig differenzierbare Funktion mit Fourierreihe

$f(x)=\sum _{n=-\mathrm{\infty }}^{\mathrm{\infty }}{a}_n{e}^{inx}$,

dann ist unter Benutzung der Parsevalschen Gleichung

$\Vert f-f_{[0,2\pi ]}{\Vert }_{L^2[0,2\pi ]}=\sum _{n=0}|a_n{|}^2\le \sum _n{n}^2|a_n{|}^2=\Vert f^{\prime }{\Vert }_{L^2[0,2\pi ]}$.

Mannigfaltigkeiten

Für Riemannsche Mannigfaltigkeiten mit nichtnegativer Ricci-Krümmung (zum Beispiel nichtnegativer Schnittkrümmung) gilt die Poincaré-Ungleichung. Es gibt eine nur von der Dimension n abhängende Konstante $C_n$, so dass für alle $p\in M,r>0,u\in W_{loc}^{2,1}(M)$ gilt:

$\Vert u-u_{B(p,r)}{\Vert }_{L^2(B(p,r))}\le C_{n}r\Vert \mathrm{\nabla }u{\Vert }_{L^2(B(p,r))}$

Metrische Räume

Bruce Kleiner bewies 2007 eine Poincaré-Ungleichung für die Cayley-Graphen endlich erzeugter Gruppen:

$\underset{B_R}{\int }\Vert f-f_R{\Vert }^2\le 8\Vert S{\Vert }^2{R}^2\frac{\Vert B(2R)\Vert }{\Vert B(R)\Vert }\underset{B_{3R}}{\int }\Vert \mathrm{\nabla }f{\Vert }^2,$

wobei $f$ eine stückweise glatte Funktion, $f_R$ ihr Mittelwert über den Ball $B_R$ und $S$ das den Cayley-Graphen definierende Erzeugendensystem ist. Mit Hilfe dieser Ungleichung gab er einen vereinfachten Beweis von Gromows Satz über Gruppen polynomialen Wachstums.

Für metrische Räume mit nichtnegativer Ricci-Krümmung im Sinne von Lott-Villani-Sturm wurde die schwache lokale $L^1$-Poincaré-Ungleichung 2012 von Rajala bewiesen.

Verallgemeinerungen

Es gibt Verallgemeinerungen der Poincaré-Ungleichung für andere Sobolev-Räume, zum Beispiel die folgende Poincaré-Ungleichung für den Sobolev-Raum $H^{\frac{1}{2}}(T^2)$, d. h. den Raum der Funktionen $u$ im $L^2$-Raum des Torus $T^2$, deren Fourier-Transformierte $\hat{u}$ die Bedingung

$[u{]}_{H^{1/2}({𝐓}^2)}^2=\sum _{k\in {𝐙}^2}|k||\hat{u}(k){|}^2<+\mathrm{\infty }$

erfüllt: Es gibt eine Konstante $C$, so dass für jedes $u\in H^{\frac{1}{2}}(T^2)$ mit $u$ identisch 0 auf einer offenen Menge $E\subset T^2$ folgende Ungleichung gilt:

$\underset{{𝐓}^2}{\int }|u(x){|}^2\mathrm{d}x\le C(1+\frac{1}{\mathrm{cap}(E\times \{0\})})[u{]}_{H^{1/2}({𝐓}^2)}^2,$

wobei $\mathrm{cap}(E\times \left\{0\right\})$ die harmonische Kapazität von $E\times \left\{0\right\}$ als Teilmenge von ${ℝ}^3$ bedeutet.

Sobolev Slobodeckji-Räume und Poincaré-Ungleichung

Sei $0<s<1$ und $p\in [1,\mathrm{\infty })$. Der Sobolev Slobodeckji-Raum $W^{s,p}(\mathrm{\Omega })$ ist definiert als die Menge aller Funktionen $u$, für die gilt: $u\in L^p(\mathrm{\Omega })$ und die Seminorm $[u{]}_{s,p}$ ist endlich. Die Seminorm $[u{]}_{s,p}$ wird definiert durch:

$[u{]}_{s,p}={\left(\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\frac{|u(x)-u(y){|}^p}{|x-y{|}^{n+sp}}dxdy\right)}^{1/p}$

Die Poincaré-Ungleichung in diesem Kontext kann wie folgt verallgemeinert werden:

$\Vert u-u_{\mathrm{\Omega }}{\Vert }_{L^p(\mathrm{\Omega })}\le C[u{]}_{s,p}$

wobei $u_{\mathrm{\Omega }}$ der Mittelwert von $u$ über $\mathrm{\Omega }$ ist und $C$ eine von $s,p$ und $\mathrm{\Omega }$ abhängige Konstante darstellt. Diese Ungleichung gilt für jedes beschränkte $\mathrm{\Omega }$.

Beweis der Poincaré-Ungleichung

Der Beweis folgt dem Beweis von Irene Drelichman und Ricardo G. Durán. Sei $f_{\mathrm{\Omega }}=\frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }f(x)dx$. Durch Anwendung der Jensen-Ungleichung erhalten wir:

$\Vert f-f_{\mathrm{\Omega }}{\Vert }_{L^p(\mathrm{\Omega })}^p={\Vert \frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }(f(y)-f(x))dx\Vert }_{L^p}^p=\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }{|\frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }f(y)-f(x)dy|}^{p}dx$

$\le \frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }|f(y)-f(x){|}^{p}dydx$.

Durch Ausnutzung der Beschränktheit von $\mathrm{\Omega }$ und weitere Abschätzungen folgt:

$\frac{1}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }|f(y)-f(x){|}^{p}dydx$

$\le \frac{\text{diam}(\mathrm{\Omega }{)}^{n+sp}}{|\mathrm{\Omega }|}\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\underset{\mathrm{\Omega }}{\int }\frac{|f(y)-f(x){|}^p}{|y-x{|}^{n+sp}}dydx$.

Hieraus ergibt sich, dass die Konstante $C$ als $C=\frac{\text{diam}(\mathrm{\Omega }{)}^{\frac{n}{p}+s}}{|\mathrm{\Omega }{|}^{\frac{1}{p}}}$ gegeben ist. Jedoch weist die Referenz mit Theorem 1 darauf hin, dass dies nicht die optimale Konstante ist.

Die Poincaré-Konstante

Die optimale Konstante $C$ in der Poincaré-Ungleichung wird als Poincaré-Konstante des Gebietes $\mathrm{\Omega }$ bezeichnet. Es ist im Allgemeinen sehr schwer, die Poincaré-Konstante zu bestimmen, abhängig von $p$ und der Geometrie des Gebietes $\mathrm{\Omega }$. Gewisse Spezialfälle sind aber behandelbar. Zum Beispiel für beschränkte, konvexe Lipschitz-Gebiete $\mathrm{\Omega }$ mit Durchmesser $d$ ist die Poincaré-Konstante höchstens $d/2$ falls $p=1$, und höchstens $d/\pi$ falls $p=2$ und das ist die bestmögliche nur vom Durchmesser abhängende Abschätzung für die Poincaré-Konstante. Für glatte Funktionen erhält man das als eine Anwendung der isoperimetrischen Ungleichung auf die Levelmengen der Funktion. Im Eindimensionalen ist das die Wirtinger-Ungleichung für Funktionen.

Es gibt Spezialfälle, in denen die Konstante $C$ explizit bestimmt werden kann. Zum Beispiel für $p=2$ ist bekannt, dass für das Gebiet des gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks mit Katheten der Länge 1 die Poincaré-Konstante $C=1/\pi$ ist (und damit kleiner als $d/\pi$ für den Durchmesser $d=\sqrt{2}$).