Frenetsche Formeln

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Die frenetschen Formeln (Frenet-Formeln), benannt nach dem französischen Mathematiker Jean Frédéric Frenet, sind die zentralen Gleichungen in der Theorie der Raumkurven, einem wichtigen Teilgebiet der Differentialgeometrie. Sie werden auch Ableitungsgleichungen oder Frenet-Serret-Formeln genannt, letzteres nach Joseph Serret, der die Formeln vollständig angab. In diesem Artikel werden die frenetschen Formeln zunächst im dreidimensionalen Anschauungsraum 3 vorgestellt, im Anschluss die Verallgemeinerung auf höhere Dimensionen.

Der dreidimensionale Fall

Übersicht

Die Formeln verwenden eine Orthonormalbasis (Einheitsvektoren, die paarweise senkrecht aufeinander stehen) aus drei Vektoren (Tangentenvektor t, Hauptnormalenvektor n und Binormalenvektor b), die das lokale Verhalten der Kurve r(s) beschreiben, und drücken die Ableitungen dieser Vektoren nach der Bogenlänge s als Linearkombinationen der genannten drei Vektoren aus. Dabei treten die für die Kurve charakteristischen skalaren Größen Krümmung κ und Torsion τ auf.

drds=tdtds=κnt×n=b
dbds=τndnds=τbκt

Begriffsbildungen

Der Vektor Δr=r2r1 verbindet zwei Punkte der Bahn und hat die Länge |Δr|=ΔrΔr. Für Δr0 geht |Δr| gegen die Bogenlänge des zwischen r1 und r2 gelegenen Bahnstücks:

ds=|dr|=drdr

Vom Anfangspunkt r0 zum Punkt r beträgt die Bogenlänge der Bahn

s=r0rds=r0rdrdr

Gegeben sei eine durch die Bogenlänge s parametrisierte Raumkurve:

r=r(s).

Vorlage:Anker Für einen Kurvenpunkt r(s) erhält man durch Ableiten nach s den Tangenteneinheitsvektor, der die lokale Richtung der Kurve, also die Änderung der Position bei einer Änderung der Bogenlänge, angibt:

t(s)=dr(s)ds=r(s).

Wegen ds=|dr| ist der Betrag der Ableitung gleich 1; somit handelt es sich um einen Einheitsvektor. Der Tangenteneinheitsvektor ändert entlang der Bahn im Allgemeinen seine Richtung, nicht aber seine Länge (er bleibt stets ein Einheitsvektor) |t|=1 bzw. tt=1. Daraus kann man folgern, dass die Ableitung des Tangenteneinheitsvektors senkrecht zu diesem steht:

tdtds=12d(tt)ds=12d1ds=0tdtds

Die Bahnkurve kann man in eine Taylorreihe um s entwickeln:

r(s+Δs)=r(s)+drds(s)Δs+12d2rds2(s)Δs2+𝒪(Δs3)=r(s)+t(s)Δs+12t(s)Δs2+𝒪(Δs3)
Bahnkurve (rot) mit Tangenteneinheitsvektoren 𝑻 und Schmiegkreis mit Radius ρ. Zur Veranschaulichung ist ds übertrieben groß gewählt.

Die Näherungskurve zweiter Ordnung in Δs ist eine Parabel, die in der von t und t aufgespannten Schmiegeebene liegt.

Um den Betrag von t zu berechnen, betrachtet man den Schmiegkreis, der sich am betrachteten Bahnpunkt an dessen Näherungsparabel anschmiegt, d. h. den Kreis, der durch den gegebenen Kurvenpunkt geht, dort die gleiche Richtung hat wie die Kurve und auch in der zweiten Ableitung mit der Kurve übereinstimmt. Der Winkel zwischen Tangentenvektoren benachbarter Kurvenpunkte (t(s) und t(s+ds)) sei dφ. Damit gilt

dφ=|dt|/|t|=|dt|

Da der Tangenteneinheitsvektor senkrecht auf dem Radiusvektor des Schmiegkreises steht, ist der Winkel zwischen benachbarten Radiusvektoren (dφ=ds/ϱ) identisch mit dem Winkel zwischen den Tangentenvektoren benachbarter Kurvenpunkte (dφ=|dt|). Daraus folgt mit ϱ als Schmiegkreisradius (= Krümmungsradius):

dφds=1ϱ|dtds|=1ϱ

Der reziproke Krümmungsradius ϱ(s) heißt Krümmung κ(s) und gibt die Stärke der Richtungsänderung über die Bogenlänge, also den Betrag von t an:

κ(s)=1ϱ(s)=|t(s)|=|r(s)|.

Vorlage:Anker Normierung von t(s) liefert den Hauptnormaleneinheitsvektor n(s) (Krümmungsvektor). Da der Tangenteneinheitsvektor tangential zum Schmiegkreis steht und der Hauptnormaleneinheitsvektor senkrecht dazu, gibt n(s) die Richtung zum Schmiegkreismittelpunkt an. Es ist die Richtung, in die sich t(s) ändert.

n(s)=t(s)|t(s)|=r(s)|r(s)|=ϱ(s)t(s)=ϱ(s)r(s).

Vorlage:Anker Der Normalenvektor der Schmiegeebene wird mit Hilfe des Vektorprodukts aus Tangenteneinheitsvektor und Hauptnormaleneinheitsvektor festgelegt und heißt Binormaleneinheitsvektor:

b(s)=t(s)×n(s)
Tangenteneinheitsvektor T, Hauptnormaleneinheitsvektor N und Binormaleneinheitsvektor B bilden das begleitende Dreibein einer Raumkurve.
Die Schmiegeebene ist ebenfalls dargestellt, sie wird durch den Hauptnormalen- und Tangenteneinheitsvektor aufgespannt.

Tangenten-, Hauptnormalen- und Binormaleneinheitsvektor bilden eine Orthonormalbasis des 3, d. h., diese Vektoren haben alle den Betrag 1 und sind paarweise senkrecht zueinander. Man bezeichnet diese Orthonormalbasis auch als begleitendes Dreibein der Kurve. Die frenetschen Formeln drücken die Ableitungen der genannten Basisvektoren als Linearkombinationen dieser Basisvektoren aus:

t(s)=κ(s)n(s)
n(s)=κ(s)t(s)+τ(s)b(s)
b(s)=τ(s)n(s)

oder in einprägsamer Matrixschreibweise

(tnb)=(0κ0κ0τ0τ0)(tnb).

Dabei stehen κ(s) für die Krümmung und τ(s) für die Windung (Torsion) der Kurve im betrachteten Kurvenpunkt.

Animation des begleitenden Dreibeins, sowie der Krümmungs- und Torsionsfunktion. Zu den Spitzenwerten der Torsionsfunktion ist die Drehung des Binormalenvektors deutlich zu erkennen.

Anhand des begleitenden Dreibeins lassen sich Krümmung und Torsion jeweils als Richtungsänderung eines bestimmten Tangenteneinheitsvektors veranschaulichen. Dafür gibt es einige (z. T. animierte) grafische Illustrationen.

Der Torsion τ(s) entspricht die Richtungsänderung des Binormaleneinheitsvektors:

  • Je größer die Torsion, desto schneller ändert der Binormaleneinheitsvektor b(s) in Abhängigkeit von s seine Richtung. Ist die Torsion überall 0, so handelt es sich bei der Raumkurve um eine ebene Kurve, d. h., es gibt eine gemeinsame Ebene, auf der alle Punkte der Kurve liegen.

Der Krümmung κ(s) entspricht die Richtungsänderung des Tangenteneinheitsvektors:

  • Je stärker die Krümmung κ(s) ist, desto schneller ändert der Tangenteneinheitsvektor t(s) in Abhängigkeit von s seine Richtung.

Punkte der Raumkurve mit der Krümmung 0, in denen kein Schmiegkreis existiert, in denen also die Ableitung des Tangenteneinheitsvektors der Nullvektor ist, heißen Wendepunkte und sind gesondert zu behandeln. Dort verlieren die Begriffe Normalenvektor und Binormalenvektor ihren Sinn. Haben alle Punkte die Krümmung 0, so ist die Raumkurve eine Gerade.

Die Frenetschen Formeln lassen sich auch mit dem Darboux-Vektor[1] formulieren.

Frenetsche Formeln in Abhängigkeit von anderen Parametern

Die oben angegebenen Formeln sind in Abhängigkeit von der Bogenlänge s definiert. Oft sind aber die Raumkurven in Abhängigkeit von anderen Parametern, z. B. von der Zeit gegeben. Um die Beziehungen durch den neuen Parameter t auszudrücken, verwendet man folgende Relation:

dsdt=|drdt|=|r˙|

somit kann man die Ableitungen von dds nach ddt umschreiben:

dds=dtdsddt=1dsdtddt=1|r˙|ddt

Folglich lauten die Frenetschen Formeln einer Raumkurve r(t), die bezüglich t parametrisiert ist (die Ableitungen nach t sind mit einem Punkt gekennzeichnet):

r˙(t)|r˙(t)|=t
t˙(t)|r˙(t)|=κn
t×n=b
b˙(t)|r˙(t)|=τn
n˙(t)|r˙(t)|=τbκt

Eine dreimal nach t differenzierbare Kurve r(t) besitzt an jeder Parameterstelle mit r˙(t)×r¨(t)0 die folgenden charakteristischen Vektoren und Skalare:

Tangentenvektor t(t)=r˙(t)|r˙(t)|
Binormalenvektor b(t)=r˙(t)×r¨(t)|r˙(t)×r¨(t)|=r˙(t)×t˙(t)|r˙(t)||t˙(t)|
Hauptnormalenvektor    n(t)=b(t)×t(t)=(r˙(t)×r¨(t))×r˙(t)|r˙(t)×r¨(t)||r˙(t)|=t˙(t)|t˙(t)|
Krümmung κ(t)=|r˙(t)×r¨(t)||r˙(t)|3=|t˙(t)||r˙(t)|
Torsion τ(t)=(r˙(t)×r¨(t))r(t)|r˙(t)×r¨(t)|2

Die frenetschen Formeln in n Dimensionen

Für den n-dimensionalen Fall sind zunächst einige technische Voraussetzungen erforderlich. Eine nach Bogenlänge parametrisierte und n-mal stetig differenzierbare Kurve sr(s) heißt eine Frenet-Kurve, falls die Vektoren r(s),r(s),,r(n1)(s) der ersten n1 Ableitungen in jedem Punkt s linear unabhängig sind. Das begleitende Frenet-n-Bein besteht aus n Vektoren ei=ei(s), die folgende Bedingungen erfüllen:

  1. e1,,en sind orthonormiert und positiv orientiert.
  2. Für jedes i=1,n1 stimmen die linearen Hüllen von e1,ei und r,,r(i) überein.
  3. r(i),ei>0 für alle i=1,n1.

Diese Bedingungen hat man wieder punktweise zu lesen, das heißt, sie gelten an jedem Parameterpunkt s. Im oben beschriebenen dreidimensionalen Fall bilden die Vektoren e1=t, e2=n und e3=±b ein begleitendes Frenet-Dreibein. Man kann mit Hilfe des Gram-Schmidtschen Orthogonalisierungsverfahrens zeigen, dass Frenet-n-Beine für Frenet-Kurven existieren und eindeutig bestimmt sind. Auch im n-dimensionalen Fall erhält man Differentialgleichungen für die Komponenten des begleitenden Frenet-n-Beins:[2]

Sei sr(s) eine Frenet-Kurve mit begleitendem Frenet-n-Bein e1,,en. Dann gibt es eindeutig bestimmte Funktionen κ1,,κn1, wobei κi (n1i)-mal stetig differenzierbar ist und für in2 nur positive Werte annimmt, so dass die folgenden frenetschen Formeln gelten:

(e1e2en1en)=(0κ100κ10κ200κ20000κn100κn10)(e1e2en1en)

κi heißt die i-te Frenet-Krümmung, die letzte κn1 wird auch Torsion der Kurve genannt. Die Kurve ist genau dann in einer Hyperebene enthalten, wenn die Torsion verschwindet. In vielen Anwendungen ist sr(s) beliebig oft differenzierbar; diese Eigenschaft überträgt sich dann auf die Frenet-Krümmungen.

Hauptsatz der lokalen Kurventheorie

Umgekehrt kann man zu vorgegebenen Frenet-Krümmungen Kurven konstruieren, genauer gilt der sogenannte Hauptsatz der lokalen Kurventheorie:[3]

Es seien beliebig oft differenzierbare reellwertige und auf einem Intervall I definierte Funktionen κ1,,κn1 gegeben, wobei die κ1,,κn2 nur positive Werte annehmen. Für einen Punkt s0I seien ein Punkt p0n und ein positiv orientiertes Orthonormalsystem e10,,en0 gegeben. Dann gibt es genau eine unendlich oft differenzierbare Frenet-Kurve r:In,sr(s) mit

  • r(s0)=p0,
  • e10,,en0 ist das begleitende Frenet-n-Bein im Parameterpunkt s0,
  • κ1,,κn1 sind die Frenet-Krümmungen von r.

Durch die ersten beiden Bedingungen werden Ort und Richtungen am Parameterpunkt s0 festgelegt, der weitere Kurvenverlauf wird dann durch die Krümmungsvorgaben der dritten Bedingung bestimmt. Zum Beweis stützt man sich auf die oben angegebenen frenetschen Formeln und verwendet die Lösungstheorie linearer Differentialgleichungssysteme.

Vorlage:Commonscat

Einzelnachweise

  1. Darboux Vector, Mathworld
  2. Wolfgang Kühnel: Differentialgeometrie. Kurven – Flächen – Mannigfaltigkeiten. 4. überarbeitete Auflage. Friedr. Vieweg & Sohn Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-8348-0411-2, Satz 2.13.
  3. Wolfgang Kühnel: Differentialgeometrie. Kurven – Flächen – Mannigfaltigkeiten. 5. aktualisierte Auflage. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-1233-9, Satz 2.13.