Elementarsatz
Der Ausdruck Elementarsatz wird vor allem mit Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie verbunden und, teils mit etwas anderer Bedeutung, auch von anderen Vertretern des logischen Empirismus bzw. Atomismus verwendet, insbesondere von Rudolf Carnap. Dabei handelt es sich um die kleinsten sprachlichen Einheiten, welche Wahrheitswerte annehmen, das heißt wahr oder falsch sein können. Ferner nennt man im Gefolge Walter Burkerts die Axiome der euklidischen Elemente der Geometrie (Στοιχεῖα) „Elementarsätze der Mathematik“.
Bertrand Russells atomic propositions
George Edward Moores Theorie hatte für jeden wahren Satz genau eine ihm entsprechende, ihn wahrmachende Tatsache postuliert. Im Gegensatz dazu vertritt der logische Atomismus Bertrand Russells, dass nur für atomare Sätze Wahrmacher benötigt werden, das heißt nur für Sätze, welche eine Relation aus n „Namen“ beinhalten und keine wahrheitsfunktionalen Operatoren (wie „und“, „oder“, „nicht“) und keine Quantoren (wie „alle“). Aus diesen atomaren Sätze gebildete wahrheitsfunktionale Satzgefüge werden wahrgemacht durch diejenigen Wahrmacher, welche die in sie eingehenden atomaren Sätze wahrmachen. Dies ermöglicht eine größere ontologische Sparsamkeit.[1]
Wittgensteins frühe Semantik im Tractatus
Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (kurz TLP) entwickelt, ausgehend vor allem von Ideen Gottlob Freges und Bertrand Russells, eine Bedeutungstheorie, der zufolge Sätze aus atomaren semantischen Einheiten zusammengesetzt sind. Dies knüpft an Russells Atomismus an.[2] Für die kleinsten wahrheitswertfähigen Einheiten, also Sätze, welche einen Sachverhalt ausdrücken können, also wahr oder falsch sein können, spricht Wittgenstein von Elementarsatz. Konjunktoren dürfen wie bei Russell nicht enthalten sein.[3] Da der Satz den Sachverhalt repräsentiert, in Wittgensteins Worten „abbildet“, hat man dies eine Abbildtheorie der Bedeutung genannt. Im Tractatus vertritt Wittgenstein: Vorlage:Zitat Der TLP ist darauf festgelegt, dass sowohl Sachverhalte wie auch sie abbildende Elementarsätze, was ihren Sinn betrifft, voneinander unabhängig sind. Diese Unabhängigkeit garantiert, dass die Wahrheitswerte von Elementarsätzen gemäß der im TLP angegebenen Wahrheitstabellen verrechenbar sind, so dass jede syntaktisch zulässige Kombination von Elementarsätzen eine logisch mögliche Sachlage beschreibt. Diese Unabhängigkeitsforderung hält Wittgenstein später für falsch. Während Russell und Carnap durchaus Beispiele von Elementarsätzen angeben, sieht Wittgenstein eine solche Explikation als noch nicht eingelöstes Analyseziel an und betont später die Nichtvorhersehbarkeit der Struktur von Elementarsätzen.
Elementarsätze im logischen Atomismus und logischen Empirismus
Das dem Tractatus zu entnehmende Forschungsprogramm besteht darin, Vorlage:Zitat In der Folge wurde, insbesondere vom Wiener Kreis, versucht, durch Analyse sprachlicher Ausdrucksweisen zu derartigen Elementarsätzen zu gelangen. Auf deren Fundament sollte eine verifikationistische Erkenntnistheorie gründen. Der Wiener Kreis spricht später auch von Protokollsätzen, was sich von der Bedingung logischer Atomizität löst. Eine solche Auffassung von Elementarsätzen hat auch Wittgenstein adoptiert und seiner im TLP vertretenen Auffassung entgegengesetzt. So beobachtet er, dass Sätze wie „Hier steht eine rote Rose“ oder „dieser Ort ist jetzt rot“ nur in einer erweiterten Bestimmung von „Elementarsatz“ statthaft sind, nämlich, wenn man definiert: „er enthält keine Wahrheitsfunktion und ist nicht durch einen Ausdruck definiert, der eine enthält.“[4] oder „daß er weder eine Wahrheitsfunktion anderer Sätze ist, noch als solche definiert ist“; aber: Vorlage:Zitat Wittgenstein stellte sich auch den verifikationistischen Ansätzen entgegen, die teilweise mit Bezug auf seine Schriften und Ideen formuliert wurden.
Probleme von Elementarsätzen
Die Problematik von Elementarsätzen wird im Umfeld Wittgensteins rege debattiert. Beispielhaft angeführt sei Friedrich Waismanns um 1930 in seinen Thesen notierte Verteidigung: Vorlage:Zitat Die Kernargumentation lässt sich rekonstruieren als: Wenn wir alltagssprachliche Sätze verstehen, dann auf dem logischen Fundament von Elementarsätzen. Wir verstehen aber Sprache. Also gibt es Elementarsätze. Offensichtlich steht und fällt das Argument unter anderem damit, Alternativen zur ersten Prämisse, also plausiblere semantische Theorien anzugeben.
Wittgensteins spätere Kritik der Bedeutungstheorie des Tractatus
Bereits in den selektiert und sortiert in den TLP eingehenden Notizen Wittgensteins finden sich Konstatierungen von Problemen für das dabei verfolgte Projekt. So notiert er sich beispielsweise am 1. Juni 1915: Vorlage:Zitat Die logische Struktur von Elementarsätzen sieht Wittgenstein als noch völlig ungeklärt und nicht vorhersehbar an: Vorlage:Zitat Später hält er das zunächst angestrebte Projektziel für prinzipiell unerreichbar: Vorlage:Zitat Von seiner Forderung einer logischen Unabhängigkeit rückt Wittgenstein ab: Vorlage:Zitat Wittgenstein hat derartige logische Strukturen dahingehend zu berücksichtigen versucht, dass Sätze einen Ort innerhalb eines „Satzsystems“ haben, so dass gilt, Vorlage:Zitat Wittgensteins spätere Theorieansätze sind stärker von pragmatischen Elementen geprägt. Damit fällt unter anderem auch die Orientierung an Gegenständen, wie sie im TLP als „ideale“ Voraussetzungen angenommen wurden, zugunsten einer Orientierung am konkreten insbesondere sprachlichen Verhalten, auch im engen Fall logischer Kalküle: Vorlage:Zitat Zugleich mit Rudolf Carnap kritisiert Wittgenstein seine eigene frühere Auffassung: Vorlage:Zitat
Elementarsatz im methodischen Konstruktivismus
Eine Elementaraussage ist unter den Primaussagen diejenige, die sich durch eine Prädikation einführen lässt (Kuno Lorenz).[5] Elementarsätze sind Sätze, die üblicherweise aus einem Nominator, einer Kopula und einem Prädikator bestehen (Beispiel: Napoleon ist ein Korse.) und die nicht durch logische Zeichen verknüpft sind.
Etwa 1970 führte Paul Lorenzen Apprädikatoren ein. Statt "Fido ε Hund und Fido ε braun" wird die Elementaraussage "Fido ε ein brauner Hund" vorgesehen. Lorenzen richtet sich dagegen von einem hündischen Braun zu sprechen.[6] "Fido" ist eine Eigenprädikation, "braun" ist eine Apprädikation. Der Datenbankexperte und Informatikpionier Hartmut Wedekind sieht in der Benutzung mehrerer Prädikatoren in einem Elementarsatz bei Lorenzen eine Parallele zu Edgar F. Codds Einführung der Relationalen Datenbanken.[7] Dadurch würde der Logische Atomismus überwunden.
Lorenzen sieht eine Tatkopula (tut) und eine Geschehenskopula κ zusätzlich zur üblichen Ist-Kopula ε vor. Der Satz: "Tilman trägt ( tragen) mit Eimern Wasser ins Haus." gilt also als Elementarsatz.[8]
Diese Lorenzensche Revision des Vorgehens der Logischen Propädeutik ist in dem Methodischen Konstruktivismus umstritten. Sie kann als Abkehr vom sprachphilosophischen Ansatz in der Spätphilosophie Wittgensteins gedeutet werden.[9]
Literatur
- Erich Ammereller: Die abbildende Beziehung. Zum Problem der Intentionalität im Tractatus. In: Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Herausgegeben von Wilhelm Vossenkuhl. Akademie-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-05-002694-4, (Klassiker auslegen 10), S. 112ff, hier 128ff.
- James Bogen: Wittgenstein’s Tractatus. In: Stuart G. Shanker (Hrsg.): Philosophy of science, logic, and mathematics in the 20th century. Routledge, London 1996, (Routledge history of philosophy 9), ISBN 0-415-05776-0, S. 157ff.
- Hans-Johann Glock: Wittgenstein-Lexikon. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-14543-7, S. 93–98 et passim (s. Index s.v.).
- Ernst Michael Lange: Ludwig Wittgenstein. „Logisch-philosophische Abhandlung“. Ein einführender Kommentar in den „Tractatus“. Schöningh, Paderborn u. a. 1996, ISBN 3-8252-1922-4, (UTB für Wissenschaft, Uni-Taschenbücher 1922), S. 93ff. et passim (s. Index s.v.).
- Kuno Lorenz: Elemente der Sprachkritik Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der Analytischen Philosophie Suhrkamp, Frankfurt 1970
- Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens. Bibliographisches Institut, Mannheim (BI-HTB 227/227a) 1967; 2., verb. u. erw. Aufl. 1973 ISBN 3411052279 Nachdruck 1990, 1992; seit 1996 Metzler, Stuttgart; engl.: Logical Propaedeutic. Pre-School of Reasonable Discourse. (Trans. H. Robinson) University Press of America, Lanham 1984
- Rainer Hegselmann: Klassische und konstruktive Theorie des Elementarsatzes: Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979) 89–107
- Paul Lorenzen: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Bibliographisches Institut, Mannheim 1987; Metzler, Stuttgart ²2000 ISBN 3-476-01784-2.
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. zum Beispiel Wolfgang Künne: Wahrheit, in: Ekkehard Martens / Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Philosophie. Ein Grundkurs, Band 1, Reinbek bei Hamburg 1991, 116ff, hier 139ff
- ↑ So zum Beispiel Wittgenstein selbst in einer Notiz vom 1. September 1937 explizit: „Wenn man die Bezeichnung ”Elementarsatz” gebrauchen will wie ich es in der Logisch-philosophischen Abhandlung getan habe, also wie ”atomic proposition” bei Russell...“, Bergen Electronic Edition (kurz BEE) Item 116, 80.
- ↑ „eine unmittelbare Verbindung von Gegenständen ... ohne Zuhilfenahme logischer Konstanten“, B. F. McGuinness (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein Werkausgabe Bd. 3 (kurz: Werke 3), Frankfurt/M. 1984, 73
- ↑ In der bereits angeführten Notiz vom 1. September 1937. Dort fährt er mit einer strengeren Bestimmung fort: „Soll aber gesagt werden, der Satz sei nur dann ein Elementarsatz, [...] wenn auch seine vollständige logische Analyse zeigt, daß er nicht mittels Wahrheitsfunktionen aus anderen Sätzen zusammengesetzt ist, so setzt das voraus daß man eine Vorstellung von so einer „Analyse“ habe. Ich habe selbst in frühern Zeiten von der „vollständigen Analyse“ geredet, in dem Gedanken, die Philosophie müsste alle Sätze endgültig zergliedern, um so alle Zusammenhänge klarzustellen und jede Möglichkeit des Missverständnisses zu beseitigen. Als gäbe es einen Kalkül in dem diese Zergliederung möglich wäre. Mir schwebte dabei etwas vor von der Art der Definition Russells für den bestimmten Artikel [...] Es lag dem (allen) ein falsch idealistisches Bild der Sprache und [...] ihres Gebrauchs zu Grunde. [...]“
- ↑ Kuno Lorenz, Elementaraussage, in: Jürgen Mittelstraß (hrsg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2 der 2. Aufl. Stuttgart Metzler 2005, ISBN 978-3-476-02102-1
- ↑ vgl. auch: Rainer Hegselmann: Klassische und konstruktive Theorie des Elementarsatzes: Zeitschrift für philosophische Forschung 33 (1979) 89–107
- ↑ siehe dieses Vorlage:Webarchiv
- ↑ Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, 2000² S. 26–52
- ↑ Anschluss an Wittgensteins Spätphilosophie siehe W. Kamlah, P. Lorenzen: Logische Propädeutik, S. 44. – Durch "Der Vogel singt" wird "singen" als Eigenprädikator erhalten. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen einer Elementaraussage und ihrer Prädiktionseinführung geht verloren. (Kuno Lorenz: Elementaraussage in: Jürgen Mittelstraß (hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Zweite Auflage. Stuttgart Metzler. ISBN 978-3-476-02101-4 (Band 2) 2005.)