Systemidentifikation

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Systemidentifikation (auch Systemidentifizierung) ist die theoretische und/oder experimentelle Ermittlung der quantitativen Abhängigkeit der Ausgangs- von den Eingangsgrößen eines Systems. Dazu wird das System mit definierten Testsignalen (Sprung, Impuls, Rampe o. Ä.) angeregt und der Ausgang aufgezeichnet. Die zur mathematischen Auswertung angewandten Verfahren können deterministisch oder stochastisch sein.

Theoretische Systemidentifikation

Bei der theoretischen Systemidentifikation erfolgt die Modellbildung auf der Grundlage von Bilanzgleichungen unter Berücksichtigung von Erhaltungssätzen. Das Ergebnis ist ein die Beziehung zwischen Ein- und Ausgangsgrößen beschreibendes Differentialgleichungssystem. Im Fall eines linearen, zeitinvarianten Systems gilt:

y(n)++a1y(1)+a0y=bmu(m)++b1u(1)+b0u

und, da in diesem Fall die Laplace-Transformation durchführbar ist, gilt für die Übertragungsfunktion

G(s)=bmsm++b1s+b0sn+an1sn1++a1s+a0.

Sind alle Koeffizienten an und bm bekannt, ist die Identifizierungsaufgabe gelöst. Ansonsten müssen die unbekannten Koeffizienten durch die experimentelle Systemidentifikation bestimmt werden.

Experimentelle Systemidentifikation

Signalflussplan der experimentellen Systemidentifikation

Das System wird mit geeigneten Testsignalen (Sprung, Impuls, Rampe o. a.) u(t) angeregt. Diese Signale werden außerdem einem mathematischen Modell, welches freie Parameter hat, zugeführt. Das Modell ist aus einer vorhergehenden theoretischen Prozessidentifikation bekannt. Das Modell kann entweder im Zeitbereich oder im Frequenzbereich vorliegen. Aus beiden Ausgangssignalen (System und Modell) wird die Abweichung (Differenz) berechnet und von einem Gütekriterium in Form eines Funktionals bewertet. Das Ergebnis der Bewertung wird von einem Algorithmus benutzt, um die Parameter des Modells anzupassen. Dieser Prozess wird solange wiederholt, bis die gewünschte Güte erreicht ist.

Die iterative Anpassung der Modellparameter kann durch Unterstützung entsprechender Softwarewerkzeuge verkürzt werden.

Wendetangentenverfahren

Sprungantwort einer Regelstrecke mit Wendetangente zur Bestimmung von Tu und Tg.

Ein System mit Ausgleich und ohne Überschwingen hat einen Wendepunkt in der Sprungantwort. Es tritt bei Systemen mit der Reihenschaltung mehrerer Verzögerungselemente (PT1-Glieder) auf. Durch Anlegen der Tangente an den Wendepunkt können die Verzugszeit Tu und die Ausgleichszeit Tg bestimmt werden. Ziel ist, aus diesen experimentell ermittelten Werten des Systems die Zeitkonstanten der Übertragungsfunktion des Modells zu ermitteln. Die Modellfunktion muss ebenfalls ein System mit Ausgleich beschreiben und die Sprungantwortfunktion des Modells in analytischer Form vorliegen.

Prinzip

Aus der Übertragungsfunktion des Modells

G(s)=xa(s)xe(s)

und der Sprungfunktion im Bildbereich

xe(s)=Ks

erhält man durch inverse Laplace-Transformation die Sprungantwortfunktion des Modells

xa(t)=L1{G(s)xe(s)}.

Der Anstieg m(t) der Sprungantwortfunktion des Modells zum Zeitpunkt t ist

m(t)=dxa(t)dt.

Der Wendezeitpunkt tw errechnet sich aus der Bedingung

d2xa(t)dt2=0.

Mit diesen Daten ist

xT(t)=m(tw)(ttw)+xa(tw)

die Gleichung der Wendetangente des Modells. Weiterhin gilt für den Durchtrittspunkt der Wendetangente durch die Zeitachse

xT(t0)=0=m(tw)(t0tw)+xa(tw)

und durch den stationären Wert

xT(t1)=K=m(tw)(t1tw)+xa(tw).

Aus der Skizze ist zu erkennen, dass m(tw)=KTg, t0=Tu und t1=Tu+Tg gilt. Damit lautet die Beziehung zwischen den Parametern des Systems Tu, Tg und den Eigenschaften des Modells tw und xa(tw)

Tu=twTgxa(tw)K.

Diese Beziehungen sind als Tabellen und Nomogramme für konkrete Modelle verfügbar.

Modell-Übertragungsfunktionen

Mit dem beschriebenen Verfahren können nur Funktionen mit zwei Zeitkonstanten oder bei n gleichen Zeitkonstanten die Anzahl n und die Zeitkonstante bestimmt werden. Als Übertragungsfunktionen werden unter anderem eingesetzt:

  • Zwei unterschiedliche Zeitkonstanten T1 und T2
G(s)=K(1+T1s)(1+T2s)
  • n gleiche Zeitkonstanten T1
G(s)=K(1+T1s)n
  • Zwei gleiche Zeitkonstanten T1 und eine Zeitkonstante T2
G(s)=K(1+T1s)2(1+T2s)
  • Bei großen Totzeiten oder Zeitverzögerungen geht auch
G(s)=KeTts(1+T1s)

Beispiel

Vergleich gemessener und identifizierter Sprungantwort.

Für den Fall n gleiche Zeitkonstanten T

G(s)=K(1+Ts)n

lautet die Sprungantwortfunktion

xa(t)=K{1[m=0n1(tT)mm!]et/T}

Der Anstieg der Wendetangente ist

m(t)=dxa(t)dt=(m=0n1tmTm+1m!m=1n1mtm1Tmm!)etT

und aus

d2xa(t)dt2=(m=2n1m(m1)tm2Tmm!+2m=1n1mtm1Tm+1m!m=0n1tmTm+2m!)e˙tT

folgt mit

d2xa(t)dt2=0

nach umindizieren der Summen

m=0n3(tT)mm!+2m=0n3(tT)mm!+2(tT)n2(n2)!m=0n3(tT)m1(m1)!(tT)n2(n2)!(tT)n1(n1)!=0

und

(tT)n2(n2)!=(tT)n1(n1)!

die Wendezeit

tw=(n1)T.

Der Anstieg im Wendepunkt ist

m(tw)=Ke(n1)(n1)n2T(n2)!

und

xa(tw)=K{1[m=0n1(n1)mm!]e(n1)}

Die Wendetangentenkonstruktion liefert mit Tg=Km(tw) die numerisch auszuwertenden Beziehungen

TgT=(n1)!(n1)n1en1

und mit Tu=twTgxa(tw)K

TuT=n1(n1)!(n1)n1[en1m=0n1(n1)mm!].

Das Scilab-Script

N=10;
printf("\n");
printf(" n     |Tg/T  |Tu/T  |Tg/Tu\n");
printf("----------------------------\n");
for n=2:N,
 su=0;
 for i=0:n-1,su=su+(n-1)^i/factorial(i);end;
 fa=factorial(n-1)*exp(n-1)/(n-1)^(n-1);
 fu=n-1-factorial(n-1)*(exp(n-1)-su)/(n-1)^(n-1);
 printf(" %-5d |%-5.3f |%-5.3f |%-5.3f\n",n,fa,fu,fa/fu);
end;
printf("----------------------------\n");

erzeugt eine Tabelle der Werte nach den oben angegebenen Beziehungen.

n     |Tg/T  |Tu/T  |Tg/Tu
----------------------------
2     |2.718 |0.282 |9.649
3     |3.695 |0.805 |4.587
4     |4.463 |1.425 |3.131
5     |5.119 |2.100 |2.437
6     |5.699 |2.811 |2.027
7     |6.226 |3.549 |1.754
8     |6.711 |4.307 |1.558
9     |7.164 |5.081 |1.410
10    |7.590 |5.869 |1.293
----------------------------

Aus der gemessenen Sprungantwort wurden die Werte Tu=1,030, Tg=5,183 und Tg/Tu=5,031 mit einem Scilab-Script numerisch ermittelt. Aus der Tabelle folgt n=3, Tg/T=3,695 und Tu/T=0,805. Weil die aus Tg und Tu berechneten Zeitkonstanten unterschiedlich sind, wurde die mittlere Zeitkonstante zu T=1,341 berechnet. Damit gilt für die Übertragungsfunktion des Modells

G(s)=1(1+1,341s)3.

Anwendungen

Vorlage:Überarbeiten Ein wesentliches Hilfsmittel der Systemidentifikation ist die lineare Regressionsanalyse. Man setzt hierbei als funktionale Abhängigkeit eine Linearkombination willkürlich gewählter Ansatzfunktionen an. Jede Ansatzfunktion ist arithmetischer Ausdruck der verursachenden physikalischen Größen. Die verursachte physikalische Größe wird errechnet, indem man jede Ansatzfunktion mit einem zunächst unbekannten Koeffizienten multipliziert und zum Ergebnis addiert. Die Koeffizienten werden dergestalt bestimmt, dass die mittlere quadratische Abweichung des gemessenen vom berechneten Ergebnis minimal wird. Dies bedeutet: die partielle Ableitung der mittleren quadratischen Abweichung nach jedem einzelnen Koeffizienten muss null sein. Daraus ergibt sich ein lineares inhomogenes Gleichungssystem zur Bestimmung der Koeffizienten. Die Matrix des Gleichungssystems besteht aus Produkten aus je zwei Ansatzfunktionen, gemittelt über alle Messungen. Die rechte Seite des Gleichungssystems besteht aus Produkten der verursachten Größe mit je einer Ansatzfunktion, gemittelt über alle Messungen. Bei der schrittweise durchgeführten linearen Regressionsanalyse wird iterativ bestimmt, welche Reihenglieder den meisten und welche den geringsten Einfluss auf die Genauigkeit haben, und die Reihenglieder ohne nennenswerten Einfluss werden weggelassen.

Anstelle der schrittweise erfolgenden linearen Regressionsanalyse kann bei vielen Problemstellungen alternativ ein mehrlagiges Perzeptron (engl. multi-layer perceptron, MLP) verwendet werden, was häufig mit dem Oberbegriff Neuronale Netze bezeichnet wird.

Die Systemidentifikation kommt beispielsweise in der Strömungsmechanik zum Einsatz, sei es um Widerstand und Auftrieb eines Profils zu berechnen oder sei es, um manövrierende Schiffe numerisch zu simulieren. Ein anderes Anwendungsgebiet ist die Schwingungstechnik, wo mit Übertragungsfunktionen (engl.: RAO = response amplification operator) berechnet wird, mit welcher Vergrößerung und Phasenverschiebung ein schwingfähiges System auf die einzelnen Frequenzen der Schwingungsursache reagiert.

In der Luftfahrt wird die Systemidentifizierung beispielsweise eingesetzt, um die aerodynamischen Parameter zu ermitteln, die aus analytischen Verfahren und Windkanalversuchen häufig nur ungenau bekannt sind. Hier ist die „Quad-M“-Systematik gebräuchlich, welche als die wesentlichen Teilaufgaben der Systemidentifizierung die Manöver (d. h. die Systemanregung), die Messung der Systemreaktion, das mathematische Modell des Systems sowie die Methoden zur Parameterschätzung angibt.

Literatur