Chirurgie (Mathematik)

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Chirurgie ist eine Methode in der Topologie von Mannigfaltigkeiten. Sie wurde von Milnor und Kervaire zur Klassifikation exotischer Sphären entwickelt und dann in Arbeiten von Browder, Nowikow, Sullivan und Wall zur Klassifikation höher-dimensionaler Mannigfaltigkeiten ausgebaut.

Die Grundidee der Chirurgie an einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit ist, aus einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit Mn mit Einbettung

Sk×DnkMn

die Untermenge Sk×Dnk zu entfernen und an der Stelle mit Dk+1×Snk1 zu ersetzen.

Dadurch entsteht eine neue n-dimensionale Mannigfaltigkeit

(Mn)=(MnSk×Dnk)Dk+1×Snk1,

wobei Sk die kSphäre und Dnk die (nk)Kugel bezeichnet.

Chirurgie an eingebetteten Sphären in Mannigfaltigkeiten

Notation

  • S= der Rand von S.
  • IntS= das Innere von S.
  • Bildf= das Bild f(A) bei f:AB.

Hintergrund

Wenn X,Y Mannigfaltigkeiten mit Rand sind, dann gilt für den Rand der Produkt-Mannigfaltigkeit

(X×Y)=(X×Y)(X×Y).

Diese Beziehung ist der Ausgangspunkt hinter der Chirurgie, denn Sp×Sq1 kann einerseits als der Rand von Dp+1×Sq1 und andererseits als der Rand von Sp×Dq aufgefasst werden:

(Sp×Dq)=Sp×Sq1=(Dp+1×Sq1)

wobei Dq die q-dimensionale Vollkugel ist und Sp die p-dimensionale Sphäre. Zum Beispiel ist D1 homöomorph zum Einheitsintervall und S0 besteht aus zwei Punkten.

Chirurgie

Sei M eine Mannigfaltigkeit der Dimension n=p+q und φ:Sp×DqM eine Einbettung. Man definiert nun eine andere n-dimensionale Mannigfaltigkeit M durch

M:=(MInt(φ(Sp×Dq)))φ|Sp×Sq1(Dp+1×Sq1),

wobei wir an der Stelle

φ(Sp×Sq1)=φ((Sp×Dq))

kleben. Diese Operation nennt man p-Chirurgie.

Man sagt, dass die Mannigfaltigkeit M durch eine Sp×Dq ausschneidende und Dp+1×Sq1 anklebende Chirurgie entsteht, kurz durch eine p-Chirurgie. M ist eigentlich eine Mannigfaltigkeit mit Ecken, die Ecken können jedoch auf kanonische Weise geglättet werden.

Effekt

Ankleben von Henkeln

Wenn M der Rand einer Mannigfaltigkeit N ist, dann führt das Ankleben von Henkeln an N zu einer Chirurgie am Rand M. Das Ankleben von Henkeln ist wie folgt definiert: Für eine (n+1)-Mannigfaltigkeit L mit Rand L und eine Einbettung φ: Sp×DqL mit p+q=n definiert man L:=Lφ(Dp+1×Dq). Für diese durch Ankleben eines (p+1)-Henkels entstandene Mannigfaltigkeit L ist L durch eine p-Chirurgie aus L hervorgegangen:

L=(LInt(Bild(φ))φ|Sp×Sq1(Dp+1×Sq1).

Chirurgie und Kobordismen

Eine Chirurgie an M gibt nicht nur eine neue Mannigfaltigkeit M, sondern auch einen Kobordismus W:=(W;M,M) zwischen M und M. Dieser Kobordismus

W:=(M×I)φ×{1}(Dp+1×Dq)

wird als Spur der Chirurgie bezeichnet.

Duale Chirurgie

Man erhält M aus M zurück durch eine duale (q1)-Chirurgie, deren Spur dieselbe Mannigfaltigkeit W mit entgegengesetzter Orientierung ist.

Beispiele

Chirurgien am Kreis

Fig. 1

Eine Chirurgie am Kreis erfolgt durch Herausschneiden einer Kopie von S0×D1 und Ankleben von D1×S0. Die Bilder (Fig. 1) zeigen, dass das Resultat entweder wieder S1 oder zwei Kopien von S1 sind.

Fig. 2a
Fig. 2b

Chirurgie an der 2-Sphäre

Hier gibt es mehr Möglichkeiten, weil man entweder eine Kopie von S1×D1 oder eine Kopie von S0×D2 ausschneiden kann.

  • S1×D1: Nach Entfernen eines Kreiszylinders aus der 2-Sphäre verbleiben zwei Kreisscheiben. Man muss S0×D2 ankleben, also zwei Kreisscheiben. Als Ergebnis erhält man zwei disjunkte Sphären. (Fig. 2a)
Fig. 2c.
  • S0×D2: Nach dem Ausschneiden zweier Kreisscheiben klebt man einen Kreiszylinder S1×D1 ein. Das Ergebnis hängt davon ab, ob die Verklebeabbildungen auf beiden Randkreisen dieselbe Orientierung haben. Wenn die Orientierungen dieselben sind (Fig. 2b) erhält man einen Torus S1×S1, wenn sie unterschiedlich sind erhält man eine Kleinsche Flasche (Fig. 2c).

Chirurgie an der n-Sphäre

Mit n=p+q ist

Sn=Dn+1(Dp+1×Dq)=Sp×DqDp+1×Sq1.

Eine p-Chirurgie an Sn ergibt also die Produkt-Sphäre

Dp+1×Sq1Dp+1×Sq1=Sp+1×Sq1.

Chirurgie-Programm

Struktur-Menge

Sei X eine geschlossene, glatte Mannigfaltigkeit (oder allgemeiner ein geometrischer Poincaré-Komplex) der Dimension m und M eine m-dimensionale Mannigfaltigkeit mit Homotopieäquivalenz f:MX, dann nennt man (M,f) eine Mannigfaltigkeit-Struktur auf X.[1]

Bordismus

Ein Bordismus von Funktionen f:MX, g:MX von m-dimensionalen Mannigfaltigkeiten in den Raum X ist ein Kobordismus (W;M,M) zusammen mit einer Abbildung

(F,f,g):(W;M,M)X×(I;{0},{1}).[1]

Mannigfaltigkeit-Struktur-Menge

Die Mannigfaltigkeit-Struktur-Menge 𝒮(X) von X ist die Menge der Äquivalenzklassen der Mannigfaltigkeit-Strukturen (M,f), das heißt

(M,f)(M,g)

sind in der gleichen Äquivalenzklasse falls ein Bordismus existiert (F,f,g):(W;M,M)X×(I;{0},{1}) mit Homotopieäquivalenz F, so dass (W;M,M) ein h-Kobordismus ist.[1]

Chirurgie-Programm

Das Chirurgie-Programm zur Klassifikation von Mannigfaltigkeiten soll entscheiden, wann zwei differenzierbare Mannigfaltigkeiten M und N diffeomorph sind. Man beginnt mit einer Homotopieäquivalenz MN, konstruiert einen Bordismus W zwischen M und N und eine mit den Bordismen verträgliche Abbildung WN×[0,1] und will dann mittels Chirurgien den Bordismus zu einem h-Kobordismus machen. Nach dem h-Kobordismus-Satz folgt aus der Existenz eines h-Kobordismus die Diffeomorphie von M und N. Die (manchmal berechenbaren) Obstruktionen zur Durchführung dieser Schritte sollen die Klassifikation von Mannigfaltigkeiten ermöglichen.

Literatur

  • M. Kervaire, J. Milnor: Groups of homotopy spheres. Ann. Math. (2) 77, 504-537 (1963).
  • Surveys on surgery theory. Vol. 1: Papers dedicated to C. T. C. Wall on the occasion to his 60th birthday. Annals of Mathematics Studies. 145. Princeton, NJ: Princeton University Press. (2000).
  • Surveys on surgery theory. Vol. 2: Papers dedicated to C. T. C. Wall on the occasion of his 60th birthday. Annals of Mathematics Studies. 149. Princeton, NJ: Princeton University Press. (2001).
  • M. Kreck, W. Lück: The Novikov conjecture. Geometry and algebra. Oberwolfach Seminars 33. Basel: Birkhäuser (ISBN 3-7643-7141-2/pbk) (2005).

Einzelnachweise