Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel

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Der Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel[1] (Vorlage:EnS) nach Dmitri Nikanorowitsch Gorjatschew und Sergei Alexejewitsch Tschaplygin ist in der Kreiseltheorie einer der wenigen Fälle, bei denen sich die Euler’schen Kreiselgleichungen analytisch lösen lassen. Die drei Hauptträgheitsmomente A, B und C des schweren Kreisels erfüllen die Bedingung A = B = 4C und der Schwerpunkt liegt in der von den zu A und B gehörenden Hauptachsen aufgespannten Ebene. Der Kreisel ist somit eine Abwandlung des Kowalewskaja-Kreisels.

Die Zeitintegration der Kreiselgleichungen ist möglich, weil es neben der Gesamtenergie und dem Drehimpuls Lz in Lotrichtung eine dritte kinetische Erhaltungsgröße f gibt, siehe #Integrale der Bewegung, die jedoch nur dann konstant ist, wenn Lz anfänglich verschwindet. Wie beim Kowalewskaja-Kreisel sind die Lösungen hyper- oder ultra­elliptische Funktionen aber die Komplexität des #Bifurkationsdiagramms erreicht nicht diejenige von Kowalewskajas Fall. Charakteristisch für den Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel sind (quasi-)periodische #Pendelbewegungen, bei denen f = 0 ist[2].

Gorjatschew diskutierte 1899 genau diese Bewegungen[3] und Tschaplygin konnte 1901 die allgemeine Lösung der Bewegungsgleichungen angeben[4].

Phänomenologie

Pendelbewegungen

Vorlage:Anker

Charakteristisch für den Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel sind Pendelbewegungen, bei denen das Integral f verschwindet. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn der Kreisel um seine 2- oder 3-Achse periodisch pendelt, wobei auch Überschläge stattfinden können, sodass der Kreisel ins Rotieren kommt. Andere Bewegungen mit f = 0 sind räumliche Pendelbewegungen, s. Animationen.

Bifurkationsdiagramm

Vorlage:Anker

Abb. 3: Bifurkationsdiagramm des Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisels

Bifurkation (Verzweigung) ist das Phänomen, das ein System an einem kritischen Punkt in verschiedene Zustände verzweigen kann. So kann ein lotrecht stehender Stab bei kleiner Störung nach links oder rechts umfallen sofern er irgendwie an eine Ebene gebunden ist. Die Trennlinie zwischen den beiden Pfaden ist eine Separatrix, von der auch beim unsymmetrischen Euler-Kreisel eine existiert. Die Bewegungen entlang der Separatrizen sind oft instabil. Das Bifurkationsdiagramm des Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisels hat nur eine Separatrix (blau im Bild) und ist damit weniger komplex als das des Kowalewskaja-Kreisels.

Die kritischen Punkte beim Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel stellen sich bei bestimmten Werten der Gesamtenergie h und des Integrals f ein, siehe #Integrale der Bewegung. Das Bifurkationsdiagramm besteht aus zwei Flächen, wobei in der grauen Fläche O Parameterkombinationen auftreten, die dem Kreisel bei Lz = 0 verwehrt sind. Die weißen Bereiche sind dem Kreisel zugänglich. Auf der Ordinate mit f = 0 finden oben beschriebene Pendelbewegungen statt.

Der schwarze Rand des unzugänglichen Gebiets O definiert einen Kreisel, der periodisch durch den unteren Totpunkt schwingt oder rotiert, je nachdem h < c oder h > c, siehe den folgenden Abschnitt.

Bewegungen mit minimaler Energie

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Abb. 4: Bewegung bei gegebenem f und minimaler Energie

Die Bedingung, dass der Drehimpuls Lz in Lotrichtung verschwinde, schränkt die Bewegungsmöglichkeiten des Kreisels ein. Es können auch Rotationen mit Lz ≠ 0 auftreten, aber die werden hier nicht betrachtet. Gleichmäßige Drehungen um eine vertikale Hauptachse, wie sie beim Lagrange-Kreisel und dem Kowalewskaja-Kreisel vorkommen, sind damit ausgeschlossen. Wenn eine Hauptachse irgendwann senkrecht steht, dann muss hier in dem Moment die Drehachse senkrecht zu ihr sein. Ein Beispiel für eine solche Bewegung mit minimaler Energie ist in Abb. 4 zu sehen.

Bewegungen auf der Separatrix

Vorlage:Anker

Abb. 5: Bewegung auf der Separatrix

Auf der Separatrix bewegt sich die 1-Achse durch den oberen Totpunkt und wie bei den Bewegungen mit minimaler Energie oben muss zu dem Zeitpunkt die Drehachse senkrecht zur 1-Achse sein, siehe Abb. 5. Die Bewegung auf der Separatrix ist instabil.

Pseudoreguläre Präzession

Vorlage:Hauptartikel Wenn die Winkelgeschwindigkeit um die Schwerpunktsachse vom Stützpunkt zum Schwerpunkt sehr groß ist, dann bewegt sich der Kreisel analog zur pseudoregulären Präzession des Lagrange-Kreisels[4].

Lösung der Bewegungsgleichungen

Euler-Poisson-Gleichungen

Vorlage:Hauptartikel

Aus Symmetriegründen kann die zu A gehörende erste Hauptträgheitsachse so gewählt werden, dass der Schwerpunkt des Kreisels auf ihr liegt. Damit spezialisieren sich die Euler-Poisson-Gleichungen beim Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel zu[5]

4p˙=3qr4q˙=3pr+cn3r˙=cn2n˙1=rn2qn3n˙2=pn3rn1n˙3=qn1pn2

Darin sind im Hauptachsensystem

Wie beim Kowalewskaja-Kreisel entstehen durch Skalierung der Zeit mit √c und der Winkelgeschwindigkeiten mit √c −1 Bewegungsgleichungen mit c = 1, sodass sie keinen freien Parameter mehr besitzen. Mathematisch reicht es aus, nur diesen Fall c = 1 zu betrachten.

Integrale der Bewegung

Wie bei jedem schweren Kreisel ist die Norm des Richtungsvektors der Gewichtskraft |n^|, der Drehimpuls L in Lotrichtung und die Gesamtenergie E konstant:[6]

n^n^=n12+n22+n32=1=const.l:=Ln^C=4pn1+4qn2+rn3=const.h:=EC=2(p2+q2)+12r2+cn1=const.

Diese Konstanten werden in der Kreiseltheorie Integrale genannt, die ersten beiden auch Casimir-Invarianten. Die Gesamtenergie wird in der analytischen Mechanik auch als Hamilton-Funktion bezeichnet, was ihre Benennung mit h begründet. Beim Gorjatschew-Tschaplygin-Kreisel verschwindet l nach Voraussetzung und dann gibt es noch ein viertes rationales Integral[7]

f=(p2+q2)rcpn3

Denn nach den #Euler-Poisson-Gleichungen und der Produktregel erweist sich die Zeitableitung

f˙=(2pp˙+2qq˙)r+(p2+q2)r˙cp˙n3cpn˙3=cq4l

als proportional zum lotrechten Impuls, der nach Voraussetzung null ist.

Wenn f = 0 ist, dann existiert ein weiteres Integral

an=p2+q2p23

denn die Zeitableitung erweist sich nach der Quotientenregel in Kombination mit den #Euler-Poisson-Gleichungen als proportional zu f:

nan1a˙=(2pp˙+2qq˙)p23(p2+q2)23p13p˙p43=q2p53f

Gorjatschew benutzte n = Vorlage:Bruch, womit a die Dimension einer Winkelgeschwindigkeit bekommt, es wird aber auch n = 1 benutzt[8].

Gleichgewichtslösungen

Die Bedingung, dass der Drehimpuls l in Lotrichtung verschwinde, schränkt die Bewegungsmöglichkeiten des Kreisels ein. Es können auch Rotationen mit l ≠ 0 auftreten, aber die werden hier nicht betrachtet. Wenn eine Hauptachse irgendwann senkrecht ist, dann muss hier in dem Moment die Drehachse senkrecht zu ihr sein.

Relative Gleichgewichte sind Fixpunkte der #Euler-Poisson-Gleichungen, die bei Konstanz aller Größen auftreten. Wird die Bedingung l = 0 angenommen, gibt es keine vom Stillstand abweichenden Gleichgewichte.

Denn aus der dritten Euler-Poisson-Gleichung folgt n2 = 0 und aus der sechsten n1 q = 0, wo zwei Fälle zu unterscheiden sind.

  1. Falls n1 = 0 ist n3 = ±1 und aus der vierten und fünften Euler-Poisson-Gleichung ergibt sich p = q = 0. Das ist aber im Widerspruch zur zweiten Gleichung. Also muss n1 ≠ 0 sein.
  2. Falls q = 0, ist wegen der fünften Gleichung r = n3 p / n1 und l = 0 erzwingt p = r = 0.

Ohne die Bedingung l = 0 stellen sich zum Kowalewskaja-Kreisel analoge Gleichgewichte ein. Die Rotation um die vertikale 1-Achse ist stabil, wenn der Schwerpunkt unterhalb des Stützpunkts ist, und instabil, wenn er sich darüber befindet[9].

Bewegungen mit minimaler Energie

Auf dem schwarzen Rand des dem Kreisel zugänglichen Gebiets im #Bifurkationsdiagramm läuft die 1-Achse des Kreisels durch den unteren Totpunkt. Für beliebiges f ∈ ℝ ist die Gesamtenergie

h=32(2f)23c

und im unteren Totpunkt ergibt sich

h=2q2+12r2c,f=q2rn1=1,n2=n3=0p=0,q=2f83,r=2f3

Auf der Separatrix läuft der Kreisel durch den oberen Totpunkt, sodass dort abweichend

n1=1undh=2q2+12r2+c=32(2f)23+c

vorliegt.

Gorjatschews Ausarbeitung

Gorjatschew ging in seiner Ausarbeitung[3] vom Integral a aus und zeigte in seinen Gleichungen (7) und (8), dass dieses existiert, wenn die #Integrale der Bewegung f und l null sind. Mit Hilfe dieser Konstanten ermittelte er die Fläche, die von der Winkelgeschwindigkeit im körperfesten Bezugssystem erzeugt wird. Dazu eliminierte er mit Hilfe der Integrale h, f und l die Richtungskosinus n1,2,3, und die Summe deren Quadrate, die gleich eins ist, führt auf seine Gleichung (13):

( a⁴r² + 8a⁴ρ² - 4hρ⁴ )² = λρ⁴( a⁴ - ρ⁴ )

Darin ist ρ² = p² + q² und λ = 16( 4a⁴ + c² - h² ) eine Konstante der Bewegung. Diese Gleichung gibt r als Funktion von ρ. Durch das Integral a ist außerdem

p² = ρ⁶/a⁴
q² = ρ²(a⁴-ρ⁴)/a⁴

sodass sich die Winkelgeschwindigkeit vollständig als Funktion von ρ darstellt. Bei der Eliminierung der Richtungskosinus entstanden Identitäten, die auch die n1,2,3 auf ρ zurück führen. Damit liegt die mit ρ parametrisierte Trajektorie des Kreisels im körperfesten Bezugssystem fest.

Tschaplygins Lösung

Tschaplygin gelang es die Lösungsfunktionen auf ein System von Abel-Jacobi Gleichungen zu reduzieren[10]. Dazu werden Variablen u und v eingeführt:

4( p² + q² ) = uv und r = u - v

Mit den Abkürzungen

U=u32hu4f,V=v32hv+4fU12=U2cu,V12=V2cvU22=U+2cu,V22=V+2cv

können alle Zustandsgrößen mittels

8cp=U1V2U2V1,2cn1=U+Vu+v8cq=U1V1+U2V2,2cn2=U1U2V1V2u+vr=uv,2cn3=U1V2+U2V1u+v

und die Zeitableitungen

dudt=U1U22(u+v)unddvdt=V1V22(u+v)

dargestellt werden. Daher ist

duU1U2dvV1V2=0und2uduU1U2+2vdvV1V2=dt

und das Problem ist auf hyperelliptische Integrale zurückgeführt[6].

Andoyer–Deprit Variablen L und G sind mit u und v über L = u - v und G = u + v verbunden[10].

Fußnoten

  1. Gorjatschew (1899), Magnus (1971), Leimanis (1965), Borisov u. Mamaev (2001), siehe Literatur.
  2. Borisov, Mamaev (2001), S. 271.
  3. 3,0 3,1 Gorjatschew (1899), siehe Literatur.
  4. 4,0 4,1 Leimanis (1965), S. 92.
  5. Magnus (1971), S. 130, und Leimanis (1965), S. 92.
  6. 6,0 6,1 Leimanis (1965), S. 93.
  7. Magnus (1971), S. 130, Leimanis (1965), S. 93, Borisov u. Mamaev (2001), S. 269. Dort ist γ1,2,3 = -n1,2,3.
  8. Borisov u. Mamaev, S. 271, Leimanis (1965), S. 94, Gorjatschew (1899), S. 433.
  9. Leimanis (1965), S. 95.
  10. 10,0 10,1 Borisov u. Mamaev (2001), S. 269.

Literatur