Quelltext der Seite Mori-Zwanzig-Formalismus

Der '''Mori-Zwanzig-Formalismus''', benannt nach den Physikern [[Hajime Mori]] und [[Robert Zwanzig]], ist eine Methode der statistischen Physik. Er ermöglicht, die Dynamik eines Systems mithilfe von Projektionsoperatoren in einen relevanten und einen irrelevanten Teil zu zerlegen, wodurch sich geschlossene Bewegungsgleichungen für den relevanten Teil finden lassen.

== Idee ==
Makroskopische Systeme mit einer großen Zahl mikroskopischer Freiheitsgrade werden typischerweise sehr gut durch eine kleine Zahl relevanter Variablen beschrieben, etwa der Gesamtmagnetisierung bei Spinsystemen. Der Mori-Zwanzig-Formalismus ermöglicht, basierend auf bekannten mikroskopischen Bewegungsgleichungen eines Systems – typischerweise basierend auf der [[Hamilton-Funktion]] der klassischen Mechanik bzw. dem quantenmechanischen [[Hamiltonoperator]] – makroskopische Gleichungen zu erhalten, welche nur von den relevanten Variablen abhängen. Der irrelevante Teil tritt in diesen Gleichungen als Rauschen auf. Der Formalismus ermöglicht keine Aussagen darüber, was die relevanten Variablen sind, diese ergeben sich typischerweise aus den Eigenschaften des untersuchten Systems.

Die Observablen, welche das System beschreiben, bilden einen [[Hilbertraum]]. Der Projektionsoperator entspricht dann einer Abbildung auf den [[Unterraum]], welcher nur von den relevanten Variablen aufgespannt wird.<ref>Robert Zwanzig ''Nonequilibrium Statistical Mechanics 3rd ed.'', Oxford University Press, New York, 2001, S. 144 ff.</ref> Der irrelevante Teil der Dynamik hängt von zu den relevanten Variablen orthogonalen Observablen ab. Als [[Skalarprodukt]] im Raum der dynamischen Variablen dient dabei eine Korrelationsfunktion.<ref name = "Grabert"> Hermann Grabert ''Nonlinear Transport and Dynamics of Fluctuations'' Journal of Statistical Physics, Vol. 19, No. 5, 1978 </ref> Infolgedessen kann der Mori-Zwanzig-Formalismus auch zur Behandlung von Korrelationsfunktionen verwendet werden.<ref> Jean-Pierre Hansen und Ian R. McDonald, ''Theory of Simple Liquids: with Applications to Soft Matter'' 4th ed. (Elsevier
Academic Press, Oxford, 2009), S. 363 ff.</ref>

== Herleitung ==
Eine nicht explizit zeitabhängige Observable<ref group="Anm.">Eine analoge Herleitung findet sich, z.&nbsp;B., in Robert Zwanzig ''Nonequilibrium Statistical Mechanics 3rd ed.'', Oxford University Press, New York, 2001, S. 149 ff.</ref><math>A</math> gehorcht im Heisenbergbild der hamiltonischen Bewegungsgleichung
:<math> \frac{d}{dt} A = \mathrm i L A, </math>
wobei der Liouville-Operator <math>L</math> im quantenmechanischen Fall durch den Kommutator <math> L(\cdot) = \frac{1}{\hbar}[H, \cdot]</math> und im klassischen Fall durch die Poissonklammer <math> L(\cdot) = -\mathrm i \{H, \cdot\}</math> definiert ist (es wird hier angenommen, dass der [[Hamiltonoperator]] <math>H</math> nicht von der Zeit abhängt, Verallgemeinerungen auf den zeitabhängigen Fall existieren auch<ref name = "Vrugt"> M. te Vrugt and R. Wittkowski ''Mori-Zwanzig projection operator formalism for far-from-equilibrium systems with time-dependent Hamiltonians''  Physical Review E 99, 062118 (2019) </ref>). Diese Gleichung wird formal gelöst durch
:<math> A(t) = e^{\mathrm iLt}A.</math>
Der Projektionsoperator, der auf eine Observable <math>X</math> wirkt, ist definiert durch
:<math> P X = (A,A)^{-1}(X,A)A,</math>
wobei <math>A</math> die relevante Observable ist (dies kann auch ein Vektor aus mehreren relevanten Größen sein). Als Skalarprodukt – hier mit runden Klammern notiert – wird typischerweise das Mori-Produkt, eine Verallgemeinerung der üblichen Korrelationsfunktion, verwendet. Dieses ist für Observablen <math>X, Y </math> definiert durch<ref> Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982, S. 37 </ref>
:<math>(X,Y) =  \frac{1}{\beta} \int_{0}^{\beta} \mathrm d\alpha\, \operatorname{Tr}(\bar{\rho} X e^{-\alpha H} Y e^{\alpha H}). </math>
Hierbei ist <math>\beta = (k_B T)^{-1} </math> die inverse Temperatur, <math>\operatorname{Tr}</math> ist die [[Spur (Mathematik)|Spur]] (im klassischen Fall das Phasenraumintegral) und <math> H</math> der Hamiltonoperator bzw. die Hamiltonfunktion. <math>\bar{\rho}</math> ist die relevante Wahrscheinlichkeitsdichte (bzw. der [[Dichteoperator]] in der Quantenmechanik). Diese wird so gewählt, dass sie lediglich als Funktion der relevanten Observablen geschrieben werden kann, gleichzeitig aber die (i.&nbsp;d.&nbsp;R. unbekannte) tatsächliche Wahrscheinlichkeitsdichte möglichst gut approximiert, d.&nbsp;h. insbesondere die gleichen Erwartungswerte für die relevanten Variablen liefert wie diese.<ref> Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982, S. 13 </ref>

Nun wendet man die Operatoridentität
:<math> e^{\mathrm iLt} = e^{\mathrm i(1-P)Lt} + \int_{0}^{t}\mathrm ds\, e^{\mathrm iL(t-s)}P\mathrm iLe^{\mathrm i(1-P)Ls}</math>
auf die Größe
:<math>(1-P) \mathrm iLA</math>
an. Unter Ausnutzung der obigen Definition des Projektionsoperators und der Definitionen
:<math> \Omega = (\mathrm iLA, A)(A,A)^{-1} </math>
(Frequenzmatrix),
:<math> F(t)= e^{t(1-P)L}(1-P)\mathrm iLA </math>
(stochastische Kraft) und
:<math> K(t)=(\mathrm iLF(t),A)(A,A)^{-1} </math>
(Gedächtnisfunktion) lässt sich dies schreiben als
:<math> \dot{A}(t) = \Omega A(t) + \int_{0}^{t} \mathrm ds\, K(s) A(t-s) + F(t). </math>

Dies ist eine Bewegungsgleichung für die relevante Observable <math> A(t) </math>, welche von dem Wert der Observable zum Zeitpunkt <math> t </math>, dem Wert zu früheren Zeitpunkten (Gedächtnisterm) und der stochastischen Kraft (Rauschen, entspricht dem Einfluss der zu <math> A(t) </math> orthogonalen Dynamik) abhängt.

== Markov-Näherung ==
Aufgrund des Faltungsterms ist die obigen Gleichung meist nur schwer zu lösen. Typischerweise ist man an langsamen (makroskopischen) Variablen interessiert, deren Änderung auf größeren Zeitskalen stattfindet als das (mikroskopische) Rauschen. Entwickelt man die Gleichung bis zur zweiten Ordnung in <math>\mathrm iLA(t)</math>, so erhält man<ref>Robert Zwanzig ''Nonequilibrium Statistical Mechanics 3rd ed.'', Oxford University Press, New York, 2001, S. 165 ff.</ref>
:<math> \dot{A}(t) \approx \Omega A(t) + \int_{0}^{\infty} \mathrm ds\, K(s) A(t) + F(t) </math>,
wobei
:<math> K(t)= - (e^{\mathrm iLt}(1-P)\mathrm iLA,(1-P)\mathrm iLA)(A,A)^{-1} </math>
ist.

== Verallgemeinerungen ==
Für den Fall beliebiger Abweichungen vom thermodynamischen Gleichgewicht wird die allgemeinere Form des Mori-Zwanzig-Formalismus verwendet, aus welcher sich obige Gleichungen als Linearisierung ergeben.<ref> Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982, S. 36 </ref> In diesem Fall hängt der Projektionsoperator explizit von der Zeit ab.<ref group="Anm.">Für eine detailliertere Beschreibung der Herleitung der verallgemeinerten Gleichungen siehe Hermann Grabert ''Nonlinear Transport and Dynamics of Fluctuations'' Journal of Statistical Physics, Vol. 19, No. 5, 1978 bzw. Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982</ref> In diesem Fall kann die Gleichung für eine relevante Observable
:<math> A(t) = a(t) - \delta A(t) </math>
(wobei <math>a(t)</math> der Mittelwert und <math>\delta A(t)</math> die Fluktuation ist) geschrieben werden als (verwende Indexnotation mit Summenkonvention)<ref> Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982, S. 18 </ref>
:<math> \dot{A}_i(t) = v_i(t) + \Omega_{ij}(t) \delta A_j(t) + \int_{0}^{t}\mathrm ds\, K_i(t,s) + \phi_{ij} (t,s) \delta A_j(t) + F_i(t,0) </math>,
wobei
:<math> v_i(t) = \operatorname{Tr}\left(\bar{\rho}(t)A_i\right) </math>,
:<math> \Omega_{ij}(t) = \operatorname{Tr}\left(\frac{\partial \bar{\rho}(t)}{\partial a_j(t)} \dot{A}_i\right) </math>,
:<math> K_i(t,s) = \operatorname{Tr}\left(\bar{\rho}(s)\mathrm iL(1-P(s))G(s,t)\dot{A}_i\right),</math>
und
:<math> \phi_{ij}(t,s) = \operatorname{Tr}\left(\frac{\partial \bar{\rho}(t)}{\partial a_j(t)} \mathrm iL(1-P(s))G(s,t)\dot{A}_i\right) - \dot{a}_k(t)\operatorname{Tr}\left(\frac{\partial^2 \bar{\rho}(t)}{\partial a_k(t) \partial a_j(t)}G(s,t)\dot{A}_i\right) </math>.
Hierbei wurden das zeitgeordnete Exponential
:<math> G(s,t) = T_- \exp\left(\int_{s}^{t} \mathrm du\, \mathrm iL(1-P(u))\right) </math>
sowie der zeitabhängige Projektionsoperator
:<math> P(t)X = \operatorname{Tr}\left(\bar{\rho}(t)X) + (A_i - a_i(t)\right)\operatorname{Tr}\left(\frac{\partial \bar{\rho}(t)}{\partial a_i(t)}X\right) </math>
verwendet. Auch diese Gleichungen können mittels einer Verallgemeinerung des Mori-Produkts durch Korrelationsfunktionen dargestellt werden.<ref name = "Grabert" /> Weitere Varianten des Mori-Zwanzig-Formalismus dienen der Beschreibung von Systemen mit zeitabhängigen Hamiltonoperatoren<ref name = "Vrugt" /><ref> Hugues Meyer, Thomas Voigtmann und Tanja Schilling ''On the dynamics of reaction coordinates in classical, time-dependent, many-body processes'' J. Chem. Phys. 150, 174118 (2019) </ref> bzw. von allgemeinen dynamischen Systemen<ref> A. J. Chorin, O. H. Hald und R. Kupferman ''Optimal prediction with memory '' Physica D: Nonlinear Phenomena 166, 239–257 (2002) </ref>. Ebenfalls durch Erweiterungen abgedeckt ist die allgemeine Relativitätstheorie<ref> M. te Vrugt, S. Hossenfelder and R. Wittkowski, ''Mori-Zwanzig formalism for general relativity: a new approach to the averaging problem'' Phys. Rev. Lett. 127, 231101 (2021) </ref>.

== Siehe auch ==
* [[Nakajima-Zwanzig-Gleichung]]

== Anmerkungen ==
<references group="Anm." />

== Literatur ==
* Hermann Grabert ''Projection operator techniques in nonequilibrium statistical mechanics'', Springer Tracts in Modern Physics, Band 95, 1982
* Robert Zwanzig ''Nonequilibrium Statistical Mechanics 3rd ed.'', Oxford University Press, New York, 2001

== Einzelnachweise ==
<references />

[[Kategorie:Statistische Physik]]